Hieronymus biss noch einmal vorsichtig in den Apfel. Er hatte lange hin und her überlegt, sich dann aber doch dafür entschieden. Als er beim vorletzten Biss den Wurm entdeckt hatte, war seine erster Gedanke den ganzen Apfel in hohem Bogen wegzuwerfen. Wenn er aber vorsichtig vorging, das heißt behutsam und nur an Stellen zubiss, an denen seiner Voraussicht nach der Wurm noch keinen Gang durch den Apfel gefressen hatte, konnte er dieser Frucht noch etwas Gutes abgewinnen. Eigentlich interessant, es war nicht der ganze Apfel faul. Hieronymus drehte den Apfel in seiner Hand und betrachtete ihn mit der ihm eigenen Bedächtigkeit. Richtig, das ging ihm jetzt erst auf, da er die Frucht direkt vor Augen hatte, eigentlich war der Apfel gar nicht faul. Es fraß sich nur ein Wurm durch sein saftiges Fruchtfleisch, das war alles. Würde ein vernünftiger Wurm das bei einem faulen Apfel tun? Wohl nicht. Schließlich hatte er ja auch diesen Apfel aus allen Äpfeln des Korbes gewählt, und warum, weil er eben nicht faul war, der Apfel nämlich. Er wollte diesen wurmigen Apfel Nikodemus zeigen und diesen mit seinen Gedankengängen konfrontieren. Dieser hatte ja genau das von ihm verlangt. >Denke<, hatte er zu ihm gesagt, >Hieronymus denke bevor du handelst. Und sprich darüber!<
Der Wurm fand sich offenbar in seiner Welt besser zurecht als Hieronymus sich in seiner. Aber Letzterer würde sein Wissen zweifellos noch erweitern, schließlich hatte er wunderbare Lehrer. Ja, es waren wunderbare Männer, die ihr Wissen an Hieronymus weitergaben. Nikodemus war einer von ihnen. Man konnte sich nur wundern wie er auf alles eine Antwort wusste. Es war schlicht unmöglich ihn mit einer auch noch so gefinkelten Frage in Verlegenheit zu bringen. Kürzlich war die Frage aufgetaucht, woher man denn wisse, dass die Welt keine Scheibe sei. Mit einer rhetorischen Brillanz, die einfach umwerfend war, zertrümmerte Nikodemus alle Thesen der Zweifler. >Steht denn nicht bei Jesaja 40,22 „ER ist es, der da thront über der Kugel der Erde, …“?< Hieronymus war an seinen Lippen gehangen, prägte sich jedes Wort für den späteren Eigengebrauch ein und war daher nicht schlecht erschrocken als sein Lehrer den direkt vor ihm stehenden Leon anbrüllte. >Was glotzt du so dämlich? Sprich!< Der Angeschnauzte wurde, wie alle wussten, von Nikodemus verdächtigt ein Abweichler zu sein, also einer der felsenfest davon überzeugt war, dass die Welt wie eine Insel im Ozean schwamm, wie das Anaximander und Hekataios in Übereinstimmung mit vielen Mythen einst lehrten, von den homerischen Epen ganz zu schweigen. Leon war hochrot angelaufen, getraute sich aber den Meister nicht weiter zu reizen und senkte daher den Blick. >Was schaust du zu Boden? Antworte, wenn ich dich etwas frage!< Da hatte Leon wohl etwas sagen müssen, also sprach er mit aller Vorsicht: >Steht denn in der Schrift wirklich Kugel, Meister?< Da trat der große Lehrer auf Leon zu, welcher sich wie ein Wurm zu Boden krümmte, erhob dann langsam sein weises Haupt und lehrte, Leon mit seiner gütigen Hand berührend: >Mir ist durchaus bewusst, lieber Leon, woher dein Irrtum rührt. In der Heiligen Schrift steht das Wort chugh, welches beschränkte Geister mit dem Wort Kreis übersetzt haben.< Sein forschender Rundumblick fand keinen weiteren beschränkten Geist, also setzte er fort: >Aber hör doch nur den guten Klang dieses hebräischen Wortes chugh. Hörst du es? Chugh. Da hört man ja gleichsam die Kugel heraus! Und weißt du warum?< Nun wurde er eindringlich. >Weil chugh nichts anderes heißt als Kugel!< Hieronymus war begeistert. Niemand konnte Nikodemus mit einer auch noch so gefinkelten Frage in Verlegenheit bringen.
Und nun wollte er diesem Genius mit einem angebissenen wurmigen Apfel kommen. Dabei hatte er sich nicht einmal noch überlegt welche Worte dieses Demonstrationsobjekt begleiten sollten. Aber war es eigentlich klug dem wortgewaltigen Professor einen Wurm vorzuführen, der in einem kugelförmigen Apfel seine Tage fristete? Könnte dieser das nicht als Provokation auffassen, er der seine Tage damit verlebte die Welt davon zu überzeugen, dass sie kugelrund war? Das wusste seit der letzten Mondesfinsternis sowieso jeder, zumindest jeder der den Erdschatten auf dem Mond gesehen hatte. Aber, die Linsen in Hieronymus‘ Augen akkomodierten auf Unendlich, werfen denn nicht auch runde Scheiben runde Schatten? Hieronymus blieb stehen. Was für ein Gedanke! Runde Schatten runder Scheiben, das würde Nikodemus nicht gefallen. War ihm, Hieronymus, ein fauler Fleck auf der Weltkugel aufgefallen, den vor ihm noch niemand bemerkt hatte, nicht einmal Nikodemus? Konnte das bedeuten, dass in dessen Theorie der Wurm steckte? War das denn möglich? Er zweifelte. Hatte sein großer Lehrer nicht erst vor kurzem einen absoluten Beweis für seine These verkündet? In südlichen Ländern, so hatte er gelehrt, stünden die südlichen Sternbilder höher über dem Horizont als weiter im Norden? Das Ah und Oh der Kollegen nach dieser Offenbarung hatte Hieronymus noch im Ohr. Aber was gab es da eigentlich zu staunen? Stand man direkt unter einem Leuchter, erschien dieser doch auch höher als aus großer Entfernung gesehen. Was gab es da zu staunen? Hieronymus verstand die Welt nicht mehr. Er stand immer noch wie angewurzelt da und begann in der Sonnenhitze zu schwitzen. Ob er nicht lieber zu Saul gehen sollte? Nikodemus würde ihn in der Luft zerreißen, wenn er ihm mit Kritik käme. Aber Saul, der war ganz anders, er würde sich geduldig anhören, was er in Bezug auf den Wurm zu erzählen hatte, der in seiner runden Welt steckte und den er, Hieronymus mit seinen kräftigen Bissen zutage gefördert hatte. Nikodemus und Saul waren einander nicht grün. Der Erfolge des Einen war dem Anderen ein Dorn im Auge. Wenn auch nur ein kleiner Schatten auf den etwas zu runden Beweis mit der Mondesfinsternis fallen würde, wäre das Wasser auf Sauls Mühlen. Aber funktionstüchtige Mühlen waren doch wichtig, darum drehte sich Hieronymus um und begann in die andere Richtung zu marschieren. Ja, Saul, das war ein kluger Kopf und ein Mann der Praxis. Er gab nicht so viel auf das ledige Wort wie Nikodemus. Einmal ließ er seine Studenten eine Stunde lang im Regen stehen, nur um sie dann zu fragen, was sie erlebt hatten. Einige, die gefroren hatten, ernteten ein mildes Lächeln, andere, welche bemerkten, dass die Sonne während des Regens nicht mehr schien, sahen ein leichtes Kopfschütteln des Gelehrten. Nur Hieronymus bemerkte beim besten Willen nichts. Da sprach ihn Saul direkt an, >woher kam das viele Wasser, Hieronymus?<. – >Das viele Wasser kam aus den Wolken, Meister<, antwortete dieser. Die rollenden Augen Sauls ließen ihn noch tiefer denken. Zum Glück hatte er beim Wort Wolken mit der Hand nach oben gedeutet. >Richtig, lieber Hieronymus, du hast gut beobachtet, das Wasser kam von oben. Es kommt immer von oben, ausnahmslos kommt das Wasser von oben. Dinge fallen immer von oben nach unten, so fest man sie auch nach oben wirft, sie fallen immer wieder nach unten. Was soll also das Geschwätz von den Antipoden? Was soll das unsinnige Gerede mancher Professoren von Menschen, die auf der Unterseite der Erde wohl mit den Füßen nach oben stünden? Die Wassertropfen wissen die Antwort. Es wäre ein grober Verstoß gegen die Gesetzte der Natur. Gott lässt nichts Widernatürliches zu. Schluss der Debatte.< Ja, Saul war kein Freund großer Worte, aber er führte unwiderlegbare Beweise. Der Weg zum Haus des Saul war lang, besonders jetzt in der Sonnenhitze. Er blickte hoch zur strahlenden Spenderin des Lichts beziehungsweise zum glühenden Backofen, der ihm momentan das Leben schwer machte. Die Bahn der Sonne war auch so ein Rätsel. Morgens sah man die Sonne groß aufsteigen, mittags im Zenit war ihre Scheibe deutlich kleiner, bevor sie abends vor dem Untergang wieder wesentlich größer erschien. Konnte das bedeuten, dass das Himmelsgewölbe nicht halbkugelig war, so wie man es in den Gemälden der großen Meister sehen konnte? Musste das nicht heißen, dass der Himmel höher war als der Horizont weit? Was wohl Saul dazu meinte? Man musste es ihm hinterbringen. Andererseits war es doch fraglich, ob er sich den Lorbeer mit einem Wurm wie Hieronymus teilen würde. Er blieb wieder stehen. Vom vielen Herumlaufen taten ihm schon die Füße weh. Der Apfel in seiner Hand war schon ganz braun und der Wurm war unauffindbar in seinem Inneren verschwunden. Hieronymus setzte sich verzagt auf einen Stein und zog sich die Sandalen aus. Diese hatten auch schon bessere Tage gesehen. Abgesehen davon, dass sie staubig waren, war das Leder an einigen Stellen rissig und die Sohlen, na ja. Vorne und hinten waren sie schon ganz dünn. Lange würden sie nicht mehr halten. Der Apfel in seiner Hand war zwar braun, es war aber immer noch ein saftiger Apfel und Hieronymus war durstig. Also biss er noch einmal zaghaft zu und traf prompt auf den kleinen weißen Wurm. Dieser krümmte sich erschrocken und blickte vorwurfsvoll zu ihm hoch. Und er blickte zurück. Aug in Aug mit dem Wurm war sich Hieronymus des Ernstes seiner Situation bewusst. >Was schaust du so? Hast du noch nie einen Menschen gesehen, der nicht weiß wo er ist? Sitze ich auf einer schwimmenden Scheibe oder bin ich auf der Oberfläche einer Kugel? Das einzige was ich wirklich weiß ist, dass ich genau zwischen Nikodemus und Saul stehe. Was meinst du dazu?< Der Wurm schwieg zwar, krümmte sich aber demonstrativ und setzte dann seine Bemühung fort seine Welt auszuhöhlen. Hieronymus fühlte sich unverstanden, griff nach seinen Sandalen und inspizierte, bevor er sie wieder anziehen wollte, noch einmal deren Sohlen. Da traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.
Wenn es Sie interessiert, wie diese Geschichte weiter geht, lesen Sie einfach in „VESELY’s wunderliche Naturgeschichten“ nach. Viel Vergnügen!