In diesem Jahr war der Winter kalt. Die vielen Tage, in denen die Temperatur bei minus 10° C lag, hatten die Gewässer zufrieren lassen. Der Sonnenschein verwandelte die verschneite Landschaft in eine Märchenwelt, durch die Wunderlich ausgedehnte Spaziergänge unternahm. In der Nähe seiner Wohnung gab es einen Teich inmitten eines Erholungsgebietes mit Rodelhügel, Kinderspielplatz und anderen Vergnügungen, die vor allem im Sommer das Interesse der Leute fanden. Im Winter konnte man, ausreichende Kälte vorausgesetzt, auf dem Teich wunderbar Schlittschuhlaufen. Mit etwas Fantasie erkannte man in den Umrissen des Teiches die des Kontinents Afrika. Und Fantasie hatte der Professor genug. Da, wo in Afrika Marokko, Algerien, Libyen und Tunesien lagen, war das Eis von der Schneedecke befreit worden, sodass eine spiegelglatte Fläche Alt und Jung anzog. Wunderlich war kein Eisläufer. In seiner Jugend war er nicht einmal ungeschickt gewesen, nein, er wäre bestimmt ein guter Schlittschuhläufer geworden, aber Wintersportarten waren irgendwie an gefrorenes Wasser und somit an Kälte gebunden und das lag ihm nicht. Je älter er wurde, desto mehr Freude hatte er daran anderen zuzusehen wie sie sich abmühten das Gleichgewicht zu halten oder mit einem Hockeyschläger einen Puck vor sich herzutreiben. Das Weiß der sonst grünen Landschaft und der Umriss des Wassers, der dem Umriss eines Kontinents ähnelte, brachte es mit sich, dass sich der spazierende Professor vorkam wie in einer verkehrten Welt. Die Welt war eigentlich nie verkehrt, aber, Sie werden es schon bemerkt haben, Wunderlich wählte oft einen besonderen Blickwinkel auf sie. Erst neulich hatte er einen Nachbarn, der sich als Arbeiter gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung in Steuerdingen benachteiligt vorkam, als Arbeitgeber angesprochen. »Ich bin Arbeitnehmer«, empörte sich der gute Mann. Dem Professor war selbstredend kein Fehler unterlaufen, er wollte seinen Nachbarn nur darauf aufmerksam machen, dass man die Dinge richtig benennen müsse, wenn man sie kommunizieren will. Was er damit meinte, war Folgendes: Die Arbeiter nehmen keine Arbeit, sie nehmen Geld für Arbeit, die sie geben. Sie sind also Arbeitgeber. »Sollten Sie sich wundern,« hatte der Professor seinen Kurzkurs in politischer Bildung fortgesetzt, »warum es in den Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern so oft zu Missverständnissen kommt, sehen Sie hier die Ursache. Wenn man die falsche Rolle spielt, also den falschen Text spricht, muss es zu Verständnisschwierigkeiten kommen.« Ach würde man doch öfter auf den Professor hören.
Ein Rudel eislaufender Buben fesselte seine Aufmerksamkeit. Ihm war nicht klar, was sie spielten. War es eine Art Nachlaufen-Spiel oder ein Wettrennen? Joseph stach natürlich heraus. Er war der Sohn einer Frau, wie sagt man politisch angeblich korrekt, einer Frau mit Migrationshintergrund. Kennen Sie den Menschen, der sich derartige Begriffe ausdenkt und, was noch schlimmer ist, der uns glauben lässt, dass wir uns politisch korrekt ausdrücken, wenn wir sie verwenden? Dieser Mensch hat doch erst vor kurzem die Floskel >sozial benachteiligt< für Leute geprägt, die über zu wenig Geld verfügen. Womöglich haben diese Leute mehr Freunde als so manche Reiche. Sie sind pekuniär benachteiligt, nicht zwangsläufig sozial. Jetzt schreibe ich schon wie der Professor. Ich glaube er selbst hätte das kaum besser ausdrücken können. Wie gesagt, Joseph stach heraus, nicht weil er arm war, schon gar nicht wegen einer sozialen Benachteiligung, die bestand nicht, er war gut integriert. Aber Joseph fiel im weißen Afrika durch seine dunkle Hautfarbe auf. Die vielen hellhäutigen Kinder flitzten mit einem einzigen dunkelhäutigen Kind durch den weißen Kontinent der aussah wie der schwarze. Eine verkehrte Welt. Vor kurzem hatte der Professor gelesen, dass unweit seines Wohnortes, vielleicht 70 Kilometer stromaufwärts, Artefakte gefunden wurden, die älter waren als alles Vergleichbare was je in Europa ausgegraben wurde. Sie stammen angeblich von Leuten, die entlang des Flusses aus der Gegend des Schwarzen Meeres eingewandert waren. Es gab also nicht nur einen schwarzen Kontinent, es gab auch ein Schwarzes Meer. Ob diese Migranten schwarz waren wie ihr Meer? Solche Gedanken gingen dem Professor durch den Kopf, während er fasziniert das Spiel der Kinder beobachtete. Er hatte immer noch keinen Namen dafür. Sie fuhren im Kreis, brachen aus diesem aus, verfolgten einander von Tunis bis tief in die Sahara, glitten weiter zur Atlantikküste und zurück ans Mittelmeer. Einer fuhr dem anderen nach. Sie bildeten Kreise, Ovale und migrierten auf mehr oder weniger unförmig in sich geschlossenen Bahnen. Es gab keinen Ersten, jeder war Nachfahre, relativ zum Hintermann aber Vorfahre. Waren die ersten Europäer Asiaten, die ersten Asiaten Afrikaner? War soziale Benachteiligung der Migrationshintergrund? Wunderlich wusste das nicht. Wusste es irgendwer? Wenn man den Geologen Glauben schenken kann, und warum sollte man nicht, migrieren sogar die Kontinente. Alles fließt. Die Kinder zeigten es im Zeitraffer.
Als Wunderlich heim ging, dämmerte es schon. Die Erde hatte sich gedreht. Nach Sonnenuntergang würde man ganz genau schauen müssen um Joseph von den anderen Kindern unterscheiden zu können. Aber wir wandeln ja auch bei Nacht im Licht. Künstliches Licht würde schon dafür sorgen, dass er nicht unentdeckt bliebe.