Professor Wunderlich genießt die Natur

»Es liegt wohl in der Natur der Dinge, dass wir Menschen die Natur lieben, sind wir doch ihre Kinder.« Der Professor stand müde aber glücklich am Gipfel eines Berges und betrachtete das herrliche Panorama. »Blut ist eben dicker als Wasser. Andererseits ist Blut ein ganz besonderer Saft, wie Mephisto beim Abschluss des Teufelspaktes zu Faust bemerkte.« Die Weite des Landes, die klare Luft und die klare Sicht auf die Dörfer und Städte zu des Professors Füßen ließen ihn zu den schwersten Kalibern aus seinem Zitatenköcher greifen. »Was ist der Mensch?« – »Können Sie bitte ein Foto von uns machen?« Von Wunderlich unbemerkt war ein Mädchen aus einer Mountainbiker-Gruppe auf ihn zugegangen, hielt ihm ein Smartphone hin und trat zurück in die Gruppe. Verwirrt, weil aus seinem hochfahrenden Gedanken gerissen und auch weil ihm die Technik des Telefon-Foto-Dings nicht geläufig war, blickte er unschlüssig auf die jungen Leute. Er schien sie erst jetzt bemerkt zu haben. »Einfach auf das Kamera-Symbol tippen!« Er war nicht alleine auf dem Gipfel. Hätte er gezählt, wär er auf 37 Personen gekommen, 6 Fahrräder und 3 Hunde, die in lockeren Gruppen das Gipfelkreuz umlagerten. Und dass gestern beziehungsweise an den Tagen davor nicht weniger Gipfelstürmer hier waren, sah er an den Spuren, die sie hinterlassen hatten, Papier in allen Qualitäten und Funktionen, dasselbe galt für Plastik- und Metallwaren. »Ja, was ist der Mensch in Relation zu Mutter Natur? Sind sich wirklich alle von uns einer Verwandtschaft bewusst? Fühlen wir uns als Kinder dieser Erde? Und wenn ja, benehmen wir uns auch danach?« Wieder ließ er den Blick schweifen, fokusierte aber nicht auf die weite Ebene oder die Silhouette der fernen Berge. Er richtete seine Aufmerksamkeit diesmal auf die ihn umgebenden Menschen, auf die Nahen und die Nächsten. Links von ihm erblickte er ein älteres Paar. Sie standen Hand in Hand und schauten ins Land. Ihre Blicke waren parallel zu einander ausgerichtet, ihr Lächeln glücklich entspannt. Worüber sie wohl flüsterten? Direkt vor ihm saßen junge Leute auf dem Felsen, machte Selfies und verschickten diese unter großem Gelächter. Leere Dosen von Energy-Drinks wurden krachend zertreten und einige sprachen laut vor sich hin. Aber mit wem sprachen sie? Die Ohrstöpsel lieferten den Hinweis. Sie kommunizierten gerade mit einem Freund oder einer Freundin per Handy. Wunderlich konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Etwas abseits spielten Kinder mit einem Hund. Diese hatten Energien ohne Ende. Es ging offenbar um den Besitz eines Stöckchens. Der Hund behielt die Oberhand. »Ja wir sind wohl alle Kinder der Natur.« Der Professor fasste die gewonnene Erkenntnis zusammen. »Als Kinder lebten wir noch wie selbstverständlich mit der Mutter, sahen uns eins mit ihr. Als Erwachsene leben wir wieder mit ihr, abgeklärt und mit Verstand. Aber was war mit uns in der wirren Zeit der Pubertät? Na, das war los, was mit allen Pubertierenden los ist. Wir rebellierten gegen unsere Mutter. Zum Zweck der Selbstfindung war das unbedingt notwendig. Wir gingen auf Distanz zu unserer eigenen Natur. Auch wenn wir selbst letztlich diese Zeit gut überstanden haben, ist doch zu bedenken: Irgendjemand von unseren jüngeren Geschwistern pubertiert immer.«