Professor Wunderlich geht baden

Das Erste, was der Professor wahrnahm, war ein Stimmengewirr, wie es ihm aus seinem Alltag völlig unbekannt war. In diesem Chor, wenn man es so nennen mag, dominierten Kinderstimmen. Sie mischten sich mit dem Rufen Erwachsener. Es schien kein einheitliches Thema zu geben, geschweige denn einen Dirigenten. Als zweites fiel Wunderlich auf, dass ihm sehr heiß war. Er schien geschlafen zu haben. Durch das Öffnen der Augen wäre es ihm ein Leichtes gewesen all die Rätsel zu lösen, es machte aber Spaß, weiter im Dunklen zu tappen und alle anderen Sinne zu befragen. »Also, fassen wir zusammen. Ich liege am Boden, empfinde große Hitze am ganzen Körper, vernehme rund um mich den ausgelassenen Lärm vieler Kinder, die in Begleitung Erwachsener spielen.« Seine Worte erreichten niemanden, sie waren nur fürs Protokoll. Auch war ihm längst wieder eingefallen, wie er in diese außergewöhnliche Situation geraten war. Er war ins Schwimmbad seiner Urlaubsgemeinde gegangen. Und jetzt lag er da, mitten auf einer Liegewiese, umringt von anderen sonnenhungrigen Badgästen. Er hielt die Augen weiter geschlossen und befragte seine zweitrangigen Sinne, die in Wunderlichs Lebensalltag normalerweise eine untergeordnete Rolle spielten. Er roch Gebratenes, vielleicht Gegrilltes, hörte Popmusik, vermischt mit volkstümlicher Musik. Offensichtlich übertrug eine Lautsprecheranlage einen Regionalsender. Er wollte sich dieses Freizeitgetön, dieses Feriengefühl und diesen Urlaubsgeruch abspeichern, vielleicht unter dem Codewort >Badetag<. Zum bisher genossenen Hörerlebnis gesellte sich aber ein weiteres, das Wunderlich faszinierte, ja in Staunen versetzte. Es war das Läuten von Kuhglocken. Unweit seiner Liegestätte musste wohl eine Rinderherde grasen. War das Groteske an dieser Situation nur ihm aufgefallen, dem Besucher aus dem Speckgürtel einer Großstadt, dem philanthropischen Querdenker? Sein erhellender Kommentar zu dieser alpinen Normsituation, den er bald lautstark abgeben sollte, ging bedauerlicherweise im allgemeinen Lautmischmasch unter, möglicherweise glaubten die Umsitzenden auch er telefoniere: »Hört, ihr Lieben, hört ihr Mitmenschen, hört ihr Mitglieder der Spezies Homo sapiens sapiens, hört ihr hochentwickelte Primaten, die ihr im Freizeitmodus ungehemmt lärmt, hört ihr nicht das klagende Läuten der Rinder, das anklagende Läuten der von uns hochgezüchteten edlen Spender des Grillgutes, dessen verführerischer Duft in unser aller Nasen hängt?« Wie schon befürchtet, beachtete niemand Wunderlichs Alarm. »Ist eurer Meinung nach >alles in Butter<? Ja? Ich fürchte, das ist es tatsächlich. Liebe Mitmenschen, lasst euch sagen, genau das ist eben das Problem. Dass >alles in Butter< ist, ist das Problem! Wisst ihr nicht, dass Butter das für unser Klima schädlichste Lebensmittel ist? Die Butter ist, dicht gefolgt vom Rindfleisch das Lebensmittel, das wegen des von den Kühen ausgestoßenen Methans, am meisten zur Erderwärmung beiträgt. Wisst ihr das nicht? Könnt ihr denn nicht glauben, dass die Produktion von Milchprodukten und Rindfleisch den Anstieg des Meeresspiegels zur Folge haben muss? Hört ihr nicht das alarmierende Läuten der Kuhglocken? Wenn wir Menschen weiter so mit den Rindern verfahren, gehen wir alle baden. Hört ihr? Alle gehen wir baden.«