Professor Wunderlich geht auf den Fußballplatz

Knauss, ein glühender Anhänger von Blau-Weiß 05, hatte den Professor überredet mit auf den Platz zu gehen. Er erlebte Fußball gerne in guter Gesellschaft, bedauerlicherweise waren aber Hunde auf den Rängen nicht zugelassen. Bald stellte sich heraus, dass Wunderlich suboptimal gekleidet war. Es gibt auf Fußballplätzen zwar keine strengen Bekleidungsvorschriften, es empfiehlt sich aber zweckmäßige Kleidung zu tragen, zum Beispiel Regenschutz bei zu erwartendem Regen. Soweit hatte Wunderlich gedacht. Was er aber nicht wusste, die Farben von Blau-Weiß waren blau und weiß. Wer kommt denn auch auf sowas? Die Dressen des heutigen Gegners waren hingegen in rot und gelb gehalten. Wunderlichs rote Regenjacke machte sich auf der Heim-Tribüne nicht gut, daran änderte auch der gelbe Schal nichts. »Wissen Sie eigentlich, Knauss, was die Männer vom Fan-Klub Blau-Weiß 05 so aggressiv macht?« Er zog sich die Kapuze über den Kopf und duckte sich. »Sie empfinden die gegnerische Mannschaft, ihre Schlachtenbummler und sogar mich als Eindringlinge in ihr Revier. Fußball ist nämlich ein  ritualisiertes Jagdspiel. Das mit Kalklinien exakt abgezirkeltes Stück Rasen, das bespielte Feld, ist die Bühne, auf der das Spiel des Lebens aufgeführt wird. Das kurzgeschnittene Grün steht für die gebändigte Natur, die weißen Linien für die strengen Regeln, denen das Leben auf dem Felde unterliegt. Sie garantieren gleiche Lebenschancen für beide Jagdtrupps. Um solche handelt es sich nämlich bei den zwei Mannschaften, die die begrenzten Ressourcen eines Reviers nutzen wollen. Das geht aber nicht in anarchischer Manier. Man unterwirft sich den Eingriffen einer höheren, ordnenden Macht. Diese fällt Tatsachenentscheidungen. Genauso, wie es unsinnig wäre mit einem Blitz zu diskutieren, dieser durchzuckt den Jäger oder er durchzuckt ihn nicht, bringt es nichts den Schiedsrichter zu beschimpfen, der die Rote Karte gezückt hat. Der Zuschauer erkennt das und lernt daraus. Junge Menschen sollten mehr auf Fußballplätze gehen, in die Schule des Lebens.« Diese Idee musste Wunderlich spontan gekommen sein. Er selbst lebte nämlich nicht fever-pitch-mäßig. »Warum fiebern die Zuschauer mit ihrer Mannschaft mit? Warum toben sie ekstatisch, wenn eine Hohlkugel aus einem lederimitierenden Material die Linie zwischen den Torstangen überrollt? Weil dieses Geschehen auf dem Heiligen Rasen ihr Leben betrifft. Wie viele Stücke die Jäger im heimatlichen Tor unterbringen bestimmt den Sättigungsgrad, ja das Überleben der Horde, also des Klubs einschließlich der nichtjagenden Sippe.« Die nichtjagende Sippe um Wunderlich schien hungrig zu sein. Ja, viel zu essen, um bei diesem Vergleich zu bleiben, hatten die Blau-Weiß-Anhänger nicht. Dennoch unterstützten sie ihre Kampfmannschaft bedingungslos, wenn sie bei jedem Wetter auf der Tribüne beisammensaßen. Sie stärkten sie in ihrem ewigen Kampf gegen den Abstieg. Es war ihnen eine Herzensangelegenheit all ihre Ressourcen, ob pekuniär, zeitlich oder emotionell in den Dienst dieser höheren Sache zu stellen. Der Blau-Weiß-Fan ist treu. Diese Tugend findet sich in dieser schnelllebigen Zeit nicht leicht wo anders. Der Blau-Weiß-Fan ist opferbereit und leidensfähig. Letzteres muss er sein, ist er doch oftmals Zeuge von aussichtslosen Abwehrschlachten fern der Heimat, irgendwo im Pulkautal oder tief im Marchfeld. Der Blau-Weiß-Fan ist fanatisch. Sie, liebe Leserinnen und Leser, verwenden dieses Wort vermutlich ausschließlich mit seiner schlechten Bedeutung. In Wirklichkeit kommt es aber vom fanum, dem innersten Bezirk des Tempels. Fußball ist also nicht profan, Fußball ist heilig, zumindest den typischen Stadionbesuchern. Wunderlich gehörte nicht zu ihnen. Wieder war ein Tor gefallen und der Professor freute sich aus ganzem Herzen mit dem Schützen. Dass dieser ein rot-gelb gestreiftes Trikot trug, trübte seine Freude in keiner Weise. Er wusste, dass so ein Torschuss den gesellschaftlichen Status des Torjägers hob. Und er gönnte dem sympathischen Jungen Mann seinen Erfolg. »In Wahrheit, lieber Knauss, ist es belanglos, wer heute mehr Tore schießt. Nach meiner Überzeugung gewinnen die am meisten, welche auch dem Gegner den Erfolg gönnen können. Hier auf der Tribüne stehen wir ja über den Dingen. Meinen Sie nicht?« Knauss stand aber noch mit beiden Beinen am Heimatboden und seine blau-weiße Seele musste das Ergebnis des heutigen Spiels verkraften. Doch er wusste, das Leben würde nach dem Kater weiter gehen und bangte daher jetzt schon dem nächsten Schicksalsspiel entgegen, nach dem vermutlich wieder auf der Anzeigetafel stehen wird: Blau-Weiß : Gäste 0:5.