Leseproben aus dem Roman DOMINO

Kapitel 1

Zeit im Spiegel, Freitag 20.2.

Professor Wunderlich erwacht                                             

»Guten Morgen, Wunderlich! Hast du gut geschlafen?« Professor Wunderlich lag in seinem Bett, und horchte mit geschlossenen Augen in den frühen Morgen. Das Schlafzimmerfenster war gekippt, darauf hatte er vor dem Schlafengehen geachtet. Er wollte am Morgen alles hören. Jedes noch so unbedeutend scheinende Geräusch wollte er wahrnehmen. Bellende Hunde, Klospülungen, eventuell Vogelgezwitscher, all das interessierte ihn. Waren da Kinderstimmen, hörte er Stöckelschuhe in der Wohnung über ihm, Autobahnlärm? Gab es ein frühmorgendliches Geklapper der Müllabfuhr? »Alles wunderbar, Wunderlich, alles zu meiner vollsten Zufriedenheit!« Was er tatsächlich vernahm, erfüllte ihn mit großer Freude. Leise Musik aus einer Nachbarwohnung. Eine Kaffeemühle tat ihre morgendliche Pflicht. Autotüren wurden zurückhaltend geschlossen. Eine ferne Schnellbahn fuhr an. Durch das geschlossene Fenster wäre sie nicht zu hören gewesen, das hatte er vor dem Zubettgehen getestet. Das Schlagen der Kirchturmuhr bezog er auf sich. »Es ist sieben Uhr, danke fürs Wecken. Ich stehe schon auf.« Erst jetzt öffnete der Professor die Augen, stieg aus dem Klappbett, übrigens dem einzigen Stück Möbel im Schlafzimmer und ging durch die leere Wohnung aufs Klo. Dieser Test war positiv verlaufen. Ja, er konnte sich vorstellen in dieser Wohnung jeden Morgen zu erwachen. Der Vermieter war zwar verwundert gewesen, als er von Wunderlichs Wunsch hörte, eine Probenacht in der total leeren Wohnung verbringen zu wollen, sah dann aber den praktischen Wert der Sache ein. Der neue Mieter hieß eben Wunderlich und schien auch ein bisschen so zu sein. Er brauchte keinen Autoabstellplatz, hielt keinen Hund und schien auch sonst keinerlei Umstände machen zu wollen. »Mir gefällt es hier. In der Platane vor der Loggia brüten Elstern. Das sind schöne Vögel, sie fliegen zwar wie Brustschwimmer ohne Fußtempi, aber sie waren gut gekleidet. Darauf sollten wir auch bei den anderen Nachbarn achten.« Professor Wunderlich liebte es mit sich selbst über Rede und Gegenrede zu verkehren. Was unsereins schweigend insgeheim im Oberstübchen abwickelt, führte er unter Einsatz aller Sprachorgane laut aus, selbst in Gegenwart von Ohrenzeugen. Und er sprach gerne mit sich selbst, konnte er dabei doch sicher sein erstens verstanden zu werden und zweitens adäquate Antworten zu erhalten. »Jetzt bin ich aber auf die Bewohner dieses Hauses gespannt.« Wunderlich entnahm seinem Koffer die Kleidungsstücke, die er am Abend davor säuberlich gefaltet hineingelegt hatte, zog sie an, holte aus seiner Reisetasche ein Stück trockenes Brot und ein großes Wasserglas, füllte Letzteres mit kaltem Leitungswasser und stellte sich damit auf die Loggia. Von hier überblickte er die ganze Wohnstraße. Wenn ihm die Nachbarschaft bei Wasser und Brot gefiele, wäre er bei einer Schale Kaffee, Toast und Schinken von ihr hellauf begeistert. Wunderlich war kein Psychologe aber darauf ließ sich wetten. Und die Kleidung der Hausbewohner brachte ihnen schließlich einen neuen Nachbarn ein: Professor Wunderlich.

 

Kapitel 2

Zeit im Spiegel, Freitag 27.2.

Professor Wunderlich stellt sich vor

Haben Sie eine Vorstellung welche Absicht hinter Wunderlichs Nummer mit dem Probeschlafen in der leeren Wohnung stecken könnte? War das etwa als Vorstellung für seine neuen Nachbarn gedacht, als ein Akt der Bekanntmachung, wollte er sich damit einführen? Seine Ankunft in der neuen Unterkunft war doch sicherlich nicht unbeobachtet geblieben. Es gab sicher Tratsch. Ja, es musste Tratsch geben. Seine unmittelbare Wohnungsnachbarin Frau Emma Wurmstingl, war Garantin dafür, das konnte er aber noch nicht wissen. Sie war ihm ja noch nicht vorgestellt worden.

Der Professor hatte von all seinen Mitmenschen ein phantastisches Bild, er nahm von ihnen prinzipiell nur Gutes an. Mutmaßungen über schlechte Eigenschaften stellte er nicht an. Er wollte ihnen nur Gutes und er vermutete von ihnen nur Gutes. In diesem Punkt verhielt er sich im juristischen Sinne absolut gerecht. Er war die personifizierte Unschuldsvermutung. Das letztgeschriebene Wort wird in der öffentlichen Diskussion zwar meist als Waffe eingesetzt, ist aber eigentlich eines der Grundprinzipien des modernen Rechtsstaates. »Der Begriff „Unschuldsvermutung“ geht, wie Sie vermutlich nicht wissen werden, auf den französischen Kardinal Jean Lemoine zurück«, belehrte Wunderlich unlängst einen Journalisten, bei dem das nötig war, »und meint, dass jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, solange als unschuldig anzusehen ist, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren nachgewiesen ist. Ein noch nicht verurteilter Rechtsbrecher darf keinerlei Nachteile erfahren, man darf aber vermuten dass er ein Gauner ist. Nur schreiben dürfen Sie das nicht.« Soweit der Professor im O-Ton. Worte hatten nun mal ihre Bedeutung und diese mutwillig oder aus Unwissenheit heraus zu verändern, war für ihn ein Sakrileg. In diesem wie in allen anderen Punkten war er ein äußerst korrekter Mensch. Und das bezog sich selbstredend auch auf seine Manieren.

Es ist leider aus der Mode gekommen sich seinen Mitmenschen geziemend vorzustellen. Doch Wunderlich gab nichts auf Modeerscheinungen. Was er für richtig hielt, tat er, was andere davon hielten, focht ihn nicht an. Und in dieser Beziehung hatte er keine Zweifel, was richtig war und was falsch. Es gab auch niemanden, der es für ihn hätte tun können. Also stellte er sich selbst vor: »Ich bin Wunderlich.« Stellen Sie sich vor, jemand stellte sich vor Sie und spräche >ich bin wunderlich<. Was dächten Sie? >In welcher Beziehung sind sie wunderlich?< wäre eine logische Frage als Antwort. Nicht wenige, die Wunderlich auf diese Weise verblüffte, reagierten auch so. »In welcher Beziehung sind Sie wunderlich?« – »Ich bezog die freistehende Wohnung im ersten Stock.« – »Das finde ich nicht verwunderlich,« bemerkte dazu ein junger Mann, der sich daraufhin als Peter Knoll bekannt machte. Er lebte mit Frau und Töchterchen in der Wohnung direkt unter Wunderlich. Seine Kaffeemühle kannte dieser schon. »Wir werden uns verstehen,« versprach ihm der Professor, »ich werde auf Ihre Bedürfnisse und Wünsche, so ich diese für gerechtfertigt erachte, Rücksicht nehmen, ich werde mich bemühen Ihnen nicht zur Last zu fallen und werde Ihnen, wo es mir nur möglich ist, Ihr Leben erleichtern.« Nicht nur Herrn Knoll und dessen Frau, auch allen anderen Hausbewohnern, bei denen sich Wunderlich auf diese Weise vorstellte, war am Ende des Tages klar, der neue Mieter war Wunderlich.

 

Kapitel 3

Zeit im Spiegel, Freitag 6.3.

Professor Wunderlich fährt Rad

Wunderlich hatte sich ein Fahrrad gekauft, genau das richtige für seine Bedürfnisse. Kein Herrenrad, eine hohe Stange hätte ihm beim Anhalten an einer roten Ampel Ungemach bereiten können. Aber auch kein Damenrad. So ein Mittelding mit Innengang, das schien ihm wegen des dicht bestellten Radraumes das Beste zu sein. Außerdem war er die Rücktrittbremse gewöhnt. Heute wollte er erstmals ausreiten. Um seinen neuen Wohnort genau zu erkunden, schien ihm das Rad das geeignete Mittel zu sein. Um Kontakte zu knüpfen wäre vielleicht ein Hund besser geeignet gewesen. Er wollte aber nicht nur Hundebesitzer kennenlernen. Auch kleine Kinder waren dem Vernehmen nach Türöffner in Dorfgemeinschaften. Aber richtig dörflich schien ihm dieser Ort gar nicht zu sein. Die nahe Großstadt und natürlich seine Größe ließen keinen dörflichen Charakter entstehen. »Wo befindet sich das Zentrum? Bei der Kirche? Nein, da war ich ja schon, da ist gar nichts los. Ich schau einmal zum Gemeindeamt.« Von dort aus waren zwei Bankfilialen zu sehen, das deutete auf ein Zentrum hin, eine Trafik, die braucht der Mensch, eine Apotheke, ein Supermarkt, das sprach wieder gegen das Zentrum. Wo gibt es denn heute noch eine Einkaufsmöglichkeit mitten im Ort? Die Bäckerei mit angeschlossenem Cafe sprach wieder für das Zentrum, die Post und eine Fleischhauerei ebenso. »Wenn aber das hier das Zentrum ist, wo sind dann die Leute?« Auf dem Orientierungsplan am Bahnhof hatte er einen Hauptplatz entdeckt, in natura war hier bloß eine T-förmige Straßenkreuzung mit Ampelanlage. Wenigstens gab es entlang der Hauptstraße Radwege. Als Wunderlich auf einem solchen flott dahinradeln wollte, passierte es. Abgelenkt durch die Suche nach dem pulsierenden Herzen seiner neuen Heimatgemeinde, hatte er nicht auf den Herrn mit Hund geachtet. Die beiden waren aber auch nicht als Gefahrenquelle für Radfahrer auszumachen. Er, der Herr nämlich, stand rechts vom Radweg am Gehsteig und er, der Hund, links und dazwischen spannte sich die Leine. So war es schließlich doch ein Hund der Wunderlich zu seinen ersten Bekanntschaften verhalf. Zuerst machte er Bekanntschaft mit dem rauen Asphalt seines Heimatortes, Heimaterde hätte der Professor in diesem Moment bevorzugt, und dann mit der schuldbewussten Hilfsbereitschaft des Herrn. Wunderlichs Jeans hatten nicht die ganze Gewalt des Aufpralls abfangen können, sie hatten bestenfalls den Gleitweg verlängert. Beide Hände und ein Knie waren am Ende der Strecke aufgeschürft und bluteten. »Ich bringe Sie zur Gemeindeärztin,« sagte der Herr an der Leine, »es sind nur ein paar Schritte. Können Sie gehen?« – »Ja, geht schon. Unangenehm Sie zu treffen, Wunderlich.« – »Knauss, ist mir auch unangenehm. Emil haben Sie ja schon kennen gelernt. Das ist der, mit dem ich online bin. Wenn der auf der anderen Straßenseite eine Hundedame riecht, ist er kaum zu bremsen.« – »Das ist menschlich!« Und so gelangte Wunderlich doch noch durch Intervention eines Hundes, wenn auch nicht seines eigenen, in die gesellschaftliche Mitte des Ortes, nämlich ins Wartezimmer der Ärztin. In nur fünf Minuten lernte er vier Damen, drei Herren, zwei Arzthelferinnen und auch, weil Letztere ihn als Notfall einstuften, die Frau Doktor selbst kennen. Sie alle hießen ihn herzlich willkommen. Und Wunderlich war ihnen bald sehr verbunden.

 

Kapitel 4

Das viele Wasser. Woher kommt nur das viele Wasser? Träge wälzt es sich an mir vorbei, träge aber kraftvoll und mit dumpfem Rauschen. Der Stein, auf dem ich sitze, ist feucht vom Nebel oder von der Gischt, ich weiß es nicht. Aber ich kann mich nicht genug wundern. Woher hat das Wasser nur diese Strebsamkeit, diese erstaunliche Strebsamkeit? Wellen, Wellen ohne Ende, nur wenige Meter vor mir. Sie kommen aus dem dichten Nebel und wandern zügig an mir vorbei, unbeeindruckt von der Aufmerksamkeit, die ich ihnen entgegenbringe und unbeeindruckt von der schlechten Sicht. Irgendwie beneide ich sie, diese Wellen oder die Wasserteilchen aus denen sie bestehen. Sie lassen sich nicht beirren. Sie ziehen im endlosen Strom an mir vorbei, von rechts nach links. Woher, frage ich mich, woher haben sie diese Gewissheit, mit der sie strömen? Woher komt ihr Vertrauen mit dem sie blind durch den Nebel ziehen? Vorsichtig schließe ich die Augen. Im dichten Nebel sind sie mir nicht von Nutzen. Was aber sagen meine anderen Sinne? Wellenrauschen sagen sie, Wellenrauschen, von allen Seiten Rauschen. Und ich habe nichts dagegen einzuwenden. Es ist angenehm so zu sitzen, unentdeckt im dichten Nebel, luftig eingehüllt in einer Wolke, unsichtbar für den Rest der Welt. Und Rauschen, stetiges Rauschen. Und die reinigende Kraft des Wassers auf der Haut.

Als ich noch ein Kind war, bin ich gerne unter die Bettdecke geschlüpft und bin dann minutenlang mit geschlossenen Augen und mit angehaltenem Atem zusammengerollt wie ein Fetus dagelegen. In meiner Schutzhülle war es warm und sicher. Und alles war wieder gut.

Dass ich den Atem anhalte, bemerke ich erst als mir die Luft knapp wird. Und plötzlich spüre ich den feuchten Nebel an meiner Haut, auf den Handrücken und im Gesicht. Ich spüre den Nebel als kühles Streicheln über die Wangen. Erschrocken reiße ich die Augen wieder auf und schüttle mich. Das war jetzt richtig unheimlich. Ich will wieder nach Hause, nur schnell nach Hause.

Schnell? Schnell, ja das war einmal. Schnell gehen kann ich beim besten Willen nicht mehr. Bis zu meiner Wohnung werde ich wohl spazieren müssen. Ich werde langsam spazieren. Die Leute sollen mich als Müßiggänger wahrnehmen, sollten sie mich in diesem Nebel überhaupt wahrnehmen. Aber es ist ohnehin niemand auf der Straße. Menschenleer ist sie, soweit ich sehen kann zumindest. Wenigstens bin ich mir sicher, dass es die richtige Straße ist. Ihre nebelgrauen Häuser sind dieselben wie am Hinweg. Ich muss nur die schier endlose Straße bis zu ihrem Ende gehen und dann links bis zur Bahnunterführung und gleich dahinter wohne ich. Und langsam muss ich gehen, meniskusschonend langsam.

Die Gewissheit des Flusses war aber schon beeindruckend. Da war nichts mehr übrig von der kindlichen Neugier an seiner Quelle, nichts mehr von der Hektik des jungen Baches. Ich habe nur seine Gewissheit gesehen, die beneidenswerte Gewissheit, welche aus einer geheimnisvollen Kraft kommen muss.

 

Kapitel 5

Zeit im Spiegel, Freitag 13.3.

Professor Wunderlich hat einen rettenden Einfall

»Wunderlich, was muss ich sehen? Hast du etwa zugenommen? Dir ist ja ein richtiges Bäucherl gewachsen! Das gefällt mir aber gar nicht! Sehe ich wirklich recht?« Sein Spiegel war schon in Ordnung, kein Zerrspiegel wie im Spiegelkabinett, aber auch kein Zehrspiegel mit schlankmachenden Eigenschaften. Der Professor wandte sich weiter an sein Spiegelbild. »Nein, Wunderlich, glaub nur ja nicht, du könntest dich auf irgendetwas oder irgendjemanden ausreden. Hier und heute versagt deine Ausredekunst« Er sah seine Situation realistisch. »Sag jetzt nicht, dass jeder Mensch einen Bauch hat, ja haben muss, so ein Abdomen, wie der Wissenschaftler sagt. Sag nicht, dass jeder Mensch so einen Unterleib zu Verdauungszwecken dringend braucht. Sag das nicht, Wunderlich! Wir kennen einander lange genug und du weißt, dass du bei mir mit solchen Spitzfindigkeiten nicht durchkommst. Ich kenne dich nämlich schlank. Und ich leide nicht an Gedächtnisverlust.« Der Professor war sauer. Er fühlte sich hintergangen. Da war ihm vor seinem Rücken der Bauch, dessen lebenserhaltenden Wert er durchaus akzeptierte, zu einer kleinen Wampe angeschwollen. Nun müssen Sie, sehr verehrte Leserinnen, werte Leser, noch etwas wissen. Professor Wunderlich war ein begeisterter Hobby-Etymologe. Kaum stellte sich ihm ein Problem in den Lebensweg, stürzte er sich mit Eifer auf die Beseitigung dieser Erschwernis. Er nahm eine solche Aufgabenstellung mit einer Begeisterung an, mit der sich andere Leute an die Lösung eines kniffligen Sudokus machen. Und die bevorzugten Werkzeuge zur Räumung seines Lebensweges waren seine Wörterbücher. Auf Wunderlichs Schreibtisch stapelten sich unzählige Werke zur Bedeutung und Herkunft der Wörter. Es waren Synonymwörterbücher dabei, Fremdwörterbücher, Schimpfwörterbücher, Bücher zur Rechtschreibung sowie Wörterbücher diverser Dialekte. Es ist darum kein Wunder, dass er auch sein Gewichtsproblem zuerst einmal verbal zu lösen versuchte. »Wunderlich«, wandte er sich also wieder an sein Spiegelbild, »Wunderlich, da fällt mir ein, dass das Wort >Bauch< ursprünglich die Bedeutung von >Geschwollener< hatte. Wir verstehen also einen Bauch erst als Bauch, wenn er auch geschwollen ist. Ein schlanker Bauch wird demnach als >Nichtbauch< betrachten. Hört man nicht vom einfachen Volk Sätze wie >ich habe keinen Bauch<, fraglos mit der Aussage: Ich verdaue und scheide mit dafür entwickelten Körperteilen aus, bin dabei aber schlank. Siehst du, lieber Wunderlich, jetzt habe ich dir wieder einmal deinen Arsch gerettet. Du hast einen Bauch, wie er sein soll, ja wie er sein muss, nämlich ordentlich gewölbt. Dein Bauch stammt nicht nur vom guten und reichliche Essen, er stammt auch aus der gleichen Wortfamilie wie die Beule. Und mit einer Ebensolchen sind wir beide gerade noch einmal davongekommen. Bleib also wie du bist, lieber Wunderlich. So wie du bist, ist es mir gerade recht.«

 

Kapitel 6

Mich hat es wieder an den Fluss gezogen. Ich möchte ihn einmal bei Schönwetter erleben. Erstaunlich was einige Sonnenstrahlen im Frühling mit der Landschaft machen können und mit den Leuten. Sonnenlicht und Wärme und dazu erfrischendes Wasser, das sind für mich die Elemente des Lebens schlechthin. Diese Erkenntnis entspringt keiner philosophischen Betrachtung, darüber habe ich nicht lange nachgedacht. Es ist einfach so.

Auch heute wälzt sich der Fluss der großen Stadt entgegen. Am Horizont sehe ich schon ihre hohen Gebäude, es sind vor allem Bürogebäude aus „Steel and Glass“. Der gleichnamige Lennon-Song fällt mir ein. Ich singe ihn aber nur ganz leise, ich möchte die junge Frau nicht erschrecken, die mit ihren Kindern einen Lastkahn bestaunt, welcher sich mit starkem Gebrumm flussaufwärts plagt. Diese Hochhäuser haben in den letzten Jahren die markante und bekannte Silhouette der Stadt stark verändert. Der hohe Kirchturm in ihrem Zentrum war einmal das höchste Gebäude der Welt. Heute muss man dreimal hinsehen um ihn zu entdecken. Aber hier vom Ufer aus ist er auch bei dreimaligem Hinsehen nicht kitsc zu entdecken, weil er sich hinter dem Abhang eines Berges versteckt. Ein Kircherl mit zwei Türmen blinzelt mir von diesem Berg über den Fluss her zu. Anderswo wäre dieser Berg wohl ein Hügel, aber hier in unserer Gegend nennen wir ihn großspurig Berg. Und etwas weiter rechts, flussaufwärts also, das alte Stift. Es liegt am anderen Ufer. Seit dem 12. Jahrhundert wirken hier Augustiner Chorherren. Die wissen wo es schön ist.  Und schön ist es hier wirklich. Da habe ich mir ein wirklich schönes Fleckerl Erde ausgesucht. Nun beginnen auch noch die schweren Kirchenglocken des Stiftes zu läuten. Das ist jetzt fast schon kitschig. Ich bin vom Rad gestiegen und sitze wieder am Ufer. Vor mir gräbt der Fluss weiter an seinem Bett, wie er es schon ewig tut.

Ich mag diesen Fluss, ja, ich mochte ihn eigentlich schon immer. Ich frage mich nur, was ihn mir so sympathisch macht. Als ich noch in der großen Stadt lebte, kam er mir irgendwie eingepfercht vor, eingequetscht zwischen der langen Insel, die ihn zähmen sollte, und den merkantilischen Uferbauten an seinem rechten Ufer. Aber ist dieses Ufer wirklich das rechte? Kommt nicht die Freizeit- und Unterhaltungszone an seiner linken Flanke seinem Wesen deutlich mehr entgegen? Ich glaube schon. Hat mich die Stadt damals auch eingepfercht? Wurde ich auch gezähmt? Ich bin jedenfalls froh die paar Kilometer flussaufwärts gezogen zu sein, dahin wo der Strom noch breit und frei fließen darf. Erhoffe ich mir hier Ähnliches?

Heute hat es mich jedenfalls wieder an den Fluss gezogen. Vielleicht will ich auch nur alte Gedanken wieder einfangen.

Mir geht es in letzter Zeit öfter so, damit werde ich aber wohl nicht alleine sein. Man möchte etwas Bestimmtes tun, geht dafür in ein anderes Zimmer und steht dann wie vertrottelt da. Na, ich stehe dann jedenfalls wie vertrottelt da und hab’s total vergessen. Keine Ahnung mehr, was mich dahin geführt hat. Dann gehe ich zurück, an den Ort, an dem ich den vorigen Gedanken gefasst hatte und schwupps fällt er mir wieder ein. Vielleicht war er dort noch geschwebt. Wer weiß? Jetzt probiere ich das mit dem Fluss aus. Ich schau also auf Wasser, höre es rauschen, höre es gurgeln und sehe im Wasser – eigentlich nichts. Da ist nur der Fluss des Wassers und der Fluss des Lebens. Unaufhaltsam fließt es, das Wasser wie das Leben. Das ewig neue Wasser strömt an mir vorbei.

Eine alte Melodie kommt mir in den Sinn, nicht die von Lennon, noch älter. Nach einigen gesummten Takten finde ich auch die Worte wieder. >Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin< und dann weiß ich es wieder. Dann weiß ich endlich wieder, was ich vor einigen Tagen denken musste, als ich genau hier im Nebel saß und ins Wasser blickte. Der kleinste aller Wassertropfen, musste ich denken, der kleineste Tropfen hat offenbar ein Ziel. Das winzigste Wassermolekül weiß offensichtlich wohin es will. Und ich weiß es nicht. Ich habe kein Ziel. Das Leben zieht an mir vorbei. Und ich ziehe nicht mit. Jetzt weiß ich was es bedeuten soll und warum ich so traurig bin.

 

Kapitel 17

Professor Wunderlich und das ewige Glück

»Viel Glück, Herr Professor«, wünschte Frau Emma Wurmstingl ihrem Nachbarn aus ganzem Herzen, »viel Glück und kommen Sie gesund wieder!« Der Professor überlegte, welche Antwort spontan auf diesen Wunsch zu geben sei. Er maß seinen Worten nämlich immer große Bedeutung bei, erlaubte sich also nie einfach irgendwas zu antworten. Floskeln waren absolut unmöglich. Er könnte die gute Frau mit einer philosophischen Betrachtung zum Thema Glück überraschen. Wie er sie aber so auf der Stiege unter ihm knien sah, in der einen Hand eine Reibebürste in der anderen einen Kübel mit Waschwasser, kamen ihm Bedenken, ob eine philosophische Belehrung so von oben herab unter diesen Umständen angebracht sei. Auch irritierten ihn seine Koffer, die er in den Händen hielt. Nach Art der Italiener pflegte er seine wohlgesetzten Worte reichlich mit Gesten zu untermauern. Das ließ sich jetzt aber kaum machen. Versuchen Sie doch einmal, liebe Leserinnen und Leser, hochfliegende Gedanken zum Thema Glück mit schweren Reisekoffern in den Händen auch nur zu denken. Vom Aussprechen ist da noch gar nicht die Rede. Das Gestikulieren mit bleischweren Händen wirkte sich bestimmt auf die Vorstellung vom Wesen des Glücks aus. Haben wir nicht soeben die Tür zum Verständnis der verschiedenen Glücksbegriffe aufgestoßen? Fragen Sie doch einmal eine junge Frau, die im Begriffe ist eine Kiste Mineralwasser mit einer Hand zum Kofferraum ihres Autos zu schleppen, während sie in der anderen ihr Kleinkind trägt, was für sie Glück wäre. Und stellen sie ihr dieselbe Frage wieder, wenn sie einen Modekatalog in Händen hält, während ihr Kindlein im Nebenzimmer friedlich schläft. Die zu tragende Last bestimmt zweifellos die Vorstellung von Glück. Aber, um in die Lage des Professors zurück zu schlüpfen, dieser fragte sich gerade, woran wohl Frau Wurmstingl gedacht hat, als sie das Wort Glück aussprach? Was beinhaltete wohl ihr Glücksbegriff zu diesem Zeitpunkt ihrer Existenz? Wünschte sie ihm Glück bei der Überwindung der steilen, gewendelten, seifennassen Stiege? Hörte er Sarkasmus aus ihren Worten? Oder wusste sie von der Herkunft des Wortes Glück? Das wohl kaum. Nur wenige Leute hatten je gehört, dass das Wort Glück von der Luke abstammt. Wenn nämlich früher, vielleicht im Mittelalter, ein Seefahrer im Sturm die Luke seines Schiffes schließen konnte, hatte er >geluke<. Dann lief sein Gefährt nicht voll und er hatte gute Überlebenschancen. Dieses Wort wurde später auch auf andere Lebensbereiche übernommen. Beachten Sie bitte die große Eigenleistung, die zu erbringen war um Geluke zu haben. Wie aber kam der Zufall ins Spiel, den viele Menschen als für das Glück typisch ansehen? Nun, der Professor hatte da so seine eigene Idee. Können denn Lukendeckel nicht zufallen, fragte er sich, aus welchen Gründen auch immer. Unter diesen Umständen konnten Seemänner im Sturm selbstredend auch vom Zu-Fall gerettet werden. Das steht zwar in keinem Lexikon aber irgendwer hat ja immer als Erster solche Gedanken. Und Professor Wunderlich war ein Vordenker. Und Sie, liebe glückssuchende Leserin, lieber glücksuchender Leser, denken nach, wenn Sie wieder einmal ewiges Glück erhoffen. Wie sinnvoll wäre es denn bei bestem Segelwetter mit geschlossener Luke zu fahren? Sehen Sie? Darum erwarten Sie bitte kein ewiges Glück und nicht einmal Glück im Alltagsgeschehen. Geluke braucht man nur in Gefahrensituationen. Für den Alltag reicht Ihre Routine. Nun wurde es für Wunderlich aber Zeit der Frau Nachbarin eine gute, wohlfundierte, geistvolle Antwort zu geben, aus der die Dankbarkeit für den guten Wunsch herauszuhören war. Also entschied sich der Professor für ein kurzes aber herzliches »Danke!«

 

Kapitel 38

Es soll angeblich Dussel geben, die das erste Aufeinandertreffen mit ihrem Lebensmenschen gar nicht bemerken. Unglaublich eigentlich. Aber die meisten Menschen könnten, würde man sie um zwei Uhr nachts aus dem Tiefschlaf reißen, exakt den Tag und die Stunde und natürlich auch den Ort des ersten Zusammentreffens präzise nennen. So ist es auch bei mir. Und ich erinnere mich auch noch genau an die Empfindung die ich dabei hatte. Der 6. Juli dieses Jahres ist der Tag, 16:00 Uhr die Stunde und der Ort ist mein eigener Wohnort. Und noch jetzt, eine Stunde und 45 Minuten später, bin ich high.

Lisa. Lisa, was für ein Klang. Lisa, Lisa, was für ein melodischer Klang. Lisa, dieser Name liegt leicht auf der Zunge. Lisa. >The most beautifull word I ever heart – is Lisa, is Lisa, is Lisa, is Lisa!< Bernstein – West Side Story. >The most beautifull sound in a single word …< Ein wunderschöner Name, Lisa. Es war eine goldige Idee den Brief, der eigentlich an Lisa adressiert war, aber versehentlich in meinem Postkasten gelandet war, nicht einfach wegzuwerfen. Dabei wusste ich in dem Moment noch gar nicht um wen es sich bei Lisa handelte. Dass sie die Frau ist, die mir schon öfter beim Einkaufen über den Weg gelaufen war, konnte ich ja nicht wissen. Keine Sekunde hätte ich gezögert. Ist aber alles gut gegangen. Jetzt weiß ich wo sie wohnt. Im Rosenhaus. So habe ich ihr Haus bei meinen Spazierfahrten durch den Ort für mich schon genannt, Rosenhaus, wegen der prächtigen Rosensträucher im Vorgarten. Brav habe ich ihr den Brief übergeben. Eigentlich wollte ich ihn einfach ins Postkastl stecken, aber sie ist im Vorgarten gestanden wie eine Werbefigur für Gärtnereibekleidung, Holzschuhe, grüne Schürze über roten Jeans und weißer Bluse, die Gartenschere martialisch in der Rechten. >Sie haben Post für mich?< hat sie gefragt, als sie mich mit dem Brief in der Hand unschlüssig vor dem Gartentor stehen gesehen hat. >Ja,< habe ich geantwortet, >darf ich sie Ihnen geben?< Ja. Darf ich sie Ihnen geben? Wie schlagfertig!  Es ist ein Jammer mit mir. >Ja. Darf ich sie Ihnen geben? Winterlig, du bist ein Idiot!< Aber ein glücklicher.

 

Kapitel 39

Zeit im Spiegel, Freitag 10.7.

Professor Wunderlich liest die Post

>Sehr geehrte Frau<, stand in dem Brief ganz oben. Die meisten Firmen benutzen Vordrucke oder Computerprogramme, denen nicht auffällt, dass die Anrede >Frau< für einen Mann unpassend ist. Andererseits ist es nicht immer leicht aus dem Namen das Geschlecht einer Person herauszulesen. Es wäre sogar eine Überlegung wert, ob es richtig ist einen homosexuellen Mann mir >Herr< anzusprechen oder anzuschreiben. Diese Problemlage hatte zwar nichts mit Wunderlich zu tun, aber rein akademisch gesprochen ist es doch fraglich, ob jeder Mensch sich von seiner Anrede angesprochen fühlt. Das alles zu bedenken führte aber eindeutig zu weit, also las der Professor einfach weiter. >In Beantwortung Ihrer Anfrage bezüglich eines Kostenvoranschlages zur Fassadensanierung …< Wunderlich hatte keine Firma zu diesem Zweck angeschrieben. Jetzt erst besah er sich das Briefkuvert genau und las >An Frau Lore N.<. Außer dem Ortsnamen gab es keinerlei Übereinstimmung mit seiner Adresse und Lore N. war definitiv nicht sein Name. In letzter Zeit fand er oft fremde Post in seinem Postkasten. Meist waren es Kleinigkeiten, welche die Poststücke fehlgeleitet hatten, ein schlampig geschriebener Sechser der für ein kleines b gehalten wurde, oder es gab eine Verwechslung zwischen d und b. »Ist schon was Wahres dran an dem Slogan >die Post bringt jedem irgendwas<. Der Name Lore N. sagt mir nichts. Dieser Brief erscheint mir aber zu wichtig um ihn noch einmal der Post anzuvertrauen.« Seine Worte überzeugten ihn. So schwang er sich aufs Rad und strampelte die paar hundert Meter zum Haus der Adressatin. Im Vorgarten machte sich eine attraktive Dame an Rosen zu schaffen. Vom Sehen war sie dem Professor bekannt. Sie kaufte zur selben Zeit im selben Geschäft ein, anscheinend nur für eine Person, 10 dag Schinken, ein halbes Sonnenblumenbrot, einen halbem Liter Frischmilch. »Sie lieben Rosen?« sprach sie den berittenen Boten an, der vor ihrem Haus angehalten hatte, »Rosen sind der ideale Bewuchs für meinen Vorgarten. Jeder Prinz fühlt sich angeregt weiter ins Haus einzudringen, jede Memme wird abgehalten.« – »Stachelbewehrte Schönheiten halten mich nicht ab bis zum Postkasten vorzudringen. Ich fahre zwar mit keinem gelben Moped auf dem Gehsteig, bringe Ihnen dennoch Ihre Post. Genauer gesagt bringe ich Ihnen Ihre Post nach. Das gehört sich auch so, schließlich heißt >post< ja >nach<.« – »Und ich dachte das Wort Post wurde vom lateinischen >posita< abgeleitet, das auf Deutsch >festgelegt< bedeutet, was für die festgelegten Wechselstationen für Pferde stand.« Dem Professor blieb der Mund offen. Diese Frau hatte nicht nur recht, sie hatte auch die rechten Worte gefunden ihn zu beeindrucken. Wäre der Postausträger jetzt mit seinem Gehsteigfeger um die Ecke gebogen, er hätte ihn umarmt. Das postpostalische Brieftauschen hatte er bisher in seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung für die gutnachbarlichen Beziehungen unterschätzt. »Sie haben nicht nur recht, Sie haben auch die rechten Worte gefunden mich zu beeindrucken. Ich bin aber auch gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich hielt diese, in meinen Postkasten geworfene Sendung, für an mich adressiert und habe sie geöffnet.« Wunderlich übergab den Brief. »Das ist ein Angebot Ihre Fassade zu verschönern. Ich halte Ihre Fassade übrigens nicht für sanierungsbedürftig.« – »Sie verstehen es eindeutig zweideutig zu sprechen. Nun ist es aber an mir mich zu bedanken, für das Angebot meine Fassade zu verschönern und für das Kompliment, dass es nicht nötig sei. Ich muss gestehen, Sie verwirren mich, Herr…« – »…Wunderlich.« – »Dann ist das allerdings nicht verwunderlich!«

 

Sollten es Sie interessieren, wie sich diese soeben angebahnten Beziehungen zwischen Alfred und Lisa aber auch zwischen Professor Wunderlich und Lore weiter entwickeln, empfehle ich Ihnen das Buch

DOMINO – Das Spiel der Frauen

Es ist im Buchhandel oder beim Verlag um € 16,00 erhältlich             

ISBN: 978-3-902061-30-0        

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