Ist das nicht fantastisch?

„Was glauben Sie, was ist der Unterschied zwischen einem Ding und einem Lebewesen?“ Herr B. blinzelte in die Frühlingssonne und merkte nicht gleich, dass diese Frage an ihn gerichtet war. „Was glauben Sie?“ Herr B. blickte sich suchend um und entdeckte neben sich auf der Parkbank einen jungen Mann. „Meinen Sie mich?“ – „Ich meine uns alle! Ich meine jeden Menschen, jedes andere Tier, jede Pflanze, jeden Pilz und was es noch für Kreaturen gibt, die wir als lebendig bezeichnen. Welche unserer Eigenschaften unterscheidet uns von den unbelebten Dingen?“                                                                                                                            

Na, der hat Energie, dachte Herr B. bei sich, springt im Stadtpark die Leute mit einer solchen Frage an. Da setzt man sich in der Mittagspause in die Sonne um den leeren Akku aufzuladen und dann kommt einer mit sowas daher. „Sie sind doch einer von uns,“ ließ der junge Mann nicht locker, „oder? Sie sind doch ein Mensch, nicht? Da müssten Sie das doch wissen!“ Herr B. dachte nicht daran irgendetwas wissen zu müssen. „Eigentlich möchte ich nur rasten und Energie tanken.“ Der lebendige junge Mann freute sich sichtlich und jubelte Herrn B. an. „Richtig, Sie haben es erfasst. Es ist eine Frage der Energie und was man damit macht.“ Für Herrn B. stellte sich eher die Frage, wie er diesen lästigen Fragesteller abwimmeln könnte. Aber laut sagte er: „Ich muss mich, glaube ich, abgrenzen, sonst kann ich mich nicht auf meine eigenen Lebensfragen konzentrieren. Nicht böse sein.“                                                                                                                                                           

Der junge Mann lebte auf vor Glück. „Bravo, bravissimo! Sie sind ein Naturtalent. Sie haben mit einem einzigen Satz das Wesentliche ausgesagt. Aber mit Gut und Böse hat das nichts zu tun, lieber Herr. Die ersten lebenden Zellen auf diesem Planeten handelten bestimmt nicht nach moralischen Grundsätzen, als sie sich mit einer halbdurchlässigen Membran gegen ihre Umwelt abgegrenzt haben.“ Dieser Mensch ist aber auch nicht ganz dicht, dachte Herr B. „Beneidenswerte Geschöpfe,“ sagte er aber, „wie konnten sich die gegen ihre lästige Umwelt abgrenzen?“ Herr B. versuchte es mit Humor. „Na mit einer semipermeablen Membran! Das Geheimnis aller Lebewesen liegt in der Zellhülle! Diese muss für manche Stoffe durchlässig sein, zum Beispiel für Wasser, darin gelöste Stoffe, diverse Gase und so weiter. Aber jetzt kommt der Clou: Die Zelle muss Energie reinstecken um ein Konzentrationsgefälle zwischen außen und innen herzustellen beziehungsweise aufrecht zu halten. Sie stemmt sich mit ihrer ganzen Lebensenergie gegen die Nivellierungsbestrebungen der unbelebten Natur.“ Herr B. glaubte nicht, irgendetwas verstanden zu haben und man sah es ihm an. „Jede Zelle, ob sie nun den ganzen Körper eines Einzellers ausmacht, oder ob sie im Körper eines Vielzellers ihre Arbeit tut, verbraucht Energie beim Sammeln von lebensdienlichen Stoffen und im Abwehren von unbrauchbaren oder gefährlichen Stoffen. Verstehen Sie?“                                                                      

Herr B. begann einzusehen, dass er diesem Propheten des Lebens nicht mehr entkommen würde und nickte ergeben. Worte schienen nämlich nur Wind auf dessen Segel zu sein. „Physikalisch betrachtet, ist das Leben ein Sonderfall im Universum. Obwohl der zweite Hauptsatz der Thermodynamik einen Trend zu wachsender Unordnung vorschreibt, vermag die Natur aus chaotischen Zuständen geordnete Strukturen hervorzubringen.“ Noch einmal regte sich Widerstand in Herrn B. „Von Physik verstehe ich nichts.“ – „Dann sag ich es anders,“ zeigte der junge Mann Verständnis, „das Wesen aller Lebewesen ist es, entgegen der Bestrebung der unbelebten Natur, gegen den Wind sozusagen einen lebenden Körper aufzubauen. Gelebte Ordnung statt Chaos, verstehen Sie?“ Ein Blick ins Gesicht seines Gegenübers sagte ihm alles. „Zum Glück müssen Sie das nicht verstehen. Jede Ihrer Zellen, folglich auch Ihr Gesamtkörper macht das schon richtig. Aber jetzt kommen wir zum Punkt. Obwohl alle einzelligen oder mehrzelligen Körper einschließlich unserer eigenen sterblich sind, können sie das Leben an Nachkommen weitergeben. Das Leben, unser Leben bleibt erhalten, es vergeht nicht. Das Leben ist zum Überleben gemacht.“                                 

Herr B. hörte plötzlich aufmerksam zu. „Poetisch gesagt, stehen wir Lebewesen dauernd im Gegenwind. Aber dank der schönsten Ausformung des Lebens, der Liebe, halten wir jedem Gegenwind stand.“ Diese Worte zauberten Herrn B. ein Lächeln auf Gesicht, ein langes seliges Lächeln. Nach längerem Schweigen fügte der nette junge Mann hinzu: „Und wir Jetzt-Menschen sind vielleicht die ersten Wesen, die das alles erkannt haben und würdigen können. Und Sie und ich, wir sind live dabei! Ist das nicht fantastisch?“ Endlich begriff Herr B. woher die Begeisterung des klugen jungen Mannes kam. „Ja,“ sagte er dann und blinzelte dankbar in die Sonne „ja wirklich, das ist fantastisch!“