Ich bin positiv

Gestern habe ich meine Nachbarin mit der Behauptung „ich bin positiv“ erschreckt. Sie wich einen Schritt zurück, fingerte nervös nach ihrer FFP2-Maske, die sie zum Glück immer griffbereit in der Manteltasche trägt, setzte diese hektisch auf und schaute mich groß an. Ich bin auch erschrocken und habe vermutlich auch nicht anders dreingeschaut. Meine Maske blieb aber wo sie war. Ich wusste ja was ich meinte.

Meine Nachbarin ist eine äußerst nette Person. Sie ist auch gebildet. Allerdings ist sie auch ein Kind ihrer Zeit. Und die Zeit verändert. Das ist vielleicht das Wesentlichste, was man über die Zeit sagen kann, sie verändert alles. Natürlich verändert sie auch die Sprache der Menschen, jede Sprache, wer sie auch immer wo spricht. Wer auch immer irgendwo auf dieser Welt Worte ausspricht, sollte daher bedenken, dass diese Bedeutungen haben können, die er lieber beachten sollte.

Ich bin, glaube ich, kein Kind der Zeit, zumindest nicht was meine Sprache betrifft. Ich verwende Worte gerne in ihrer angestammten Bedeutung. Wenn ich zum Beispiel von mir behaupte positiv zu sein, meine ich, dass ich bejahend bin. Ich bin lieber für etwas als gegen dessen Gegenteil. Das hat mit den Zielen zu tun, die ich erreichen möchte. Diese muss man nämlich unbedingt positiv formulieren, weil es gar nicht anders möglich ist. Sollten Sie das nicht glauben, rufen Sie ein Taxi und sagen zur Fahrerin oder zum Fahrer: „Bringen Sie mich bitte nicht zum Rathaus.“ Wenn sie Glück haben, macht man mit Ihnen eine Stadtrundfahrt, bei der Sie zufällig am Rathaus vorbeikommen. Eine faire Fahrerin, ein fairer Fahrer wird Sie aber darauf aufmerksam machen, dass sie beziehungsweise er nicht weiß wohin Sie wollen. Ihr eigenes Gehirn wüsste es übrigens auch nicht. Es kann nämlich nur positive Gedanken denken. Man kann nicht nicht an etwas Bestimmtes denken. Versuchen Sie es ruhig, es wird nicht gelingen. Denken Sie jetzt übungsweise nicht an Goethe.

Aber zurück zu meiner Nachbarin. Sie verwendet, wie fast alle ihrer ZeitgenossInnen, das Wort positiv mit zwei einander widersprechenden Bedeutungen, darum hat sie mich gestern ja auch missverstanden. Sie weiß bestimmt, dass ein Testergebnis positiv ausfallen kann, sie würde vermutlich auch einen positiven Covid-19 für schlecht halten. Dumm ist sie ja nicht. Es würde ihr sicher auch nicht im Traum einfallen einen negativen AIDS-Test für schlecht zu halten. Als gebildete Frau wird sie wohl wissen, dass das lateinische Wort negare verneinen heißt und nicht verschlechtern.  Aber warum zum Teufel sagt sie, wie fast alle Leute in unserem Land, negativ, wenn sie schlecht meint und positiv, wenn sie gut meint? Können Sie mir das erklären? Muss man denn nicht wissen, was man meint?

Aber Sie wollen sicher wissen, wie wir, meine nette Nachbarin und ich, gestern diese Schrecksekunde bewältigt haben. Ich lächelte, was man an meinem unmaskierten Gesicht auch wahrnehmen konnte und sagte mit beruhigender Stimme: “Demaskieren Sie sich ruhig wieder. Ich bin nicht positiv getestet, darum aber noch kein schlechter Mensch.“