Haben Sie in der Schule jemals geschwindelt? Ehrlich! Nun, ich würde mich bei einer diesbezüglichen Befragung der Antwort entschlagen. Erstens, weil man der Jugend immer nur ein gutes Vorbild geben soll, und zweitens, weil ich nicht so gerne darüber spreche. Dabei habe ich mich immer sehr gut auf Schularbeiten vorbereitet. Da ist einmal die richtige Wahl der Kleidung zu erwähnen. So eine schriftliche Arbeit ist ja etwas Bedeutendes. Am liebsten trug ich ein Sakko mit sage und schreibe vierzehn Taschen, das für so ein bedeutendes Ereignis die nötige Eleganz hatte. Dann schrieb ich die wichtigsten Fakten, von denen ich annahm, dass sie mir wegen der zu erwartenden Nervosität bei der Schularbeit nicht einfallen würden, auf einen kleinen Zettel. Natürlich übte ich auch. So ein kleiner Zettel ist ja nicht wirklich handlich. Da muss man schon üben. An diesem Punkt der Vorbereitungen meldete sich regelmäßig mein Gewissen, das schlechte, wie die meisten Menschen sagen würden. Ich halte das Gewissen aber für etwas Gutes. Es meldete sich also regelmäßig mein gutes Gewissen, mit dem Ergebnis, dass ich die Sache mit dem kleinen Zettel verwarf. Er war zu unhandlich. Ich schrieb einen kleineren. Dieses Spiel zwischen dem gewissen Zettel und meinem guten Gewissen setzte sich fort, bis der Zettel gewissermaßen schwand, also kleiner wurde. Der Name Schwindelzettel mag davon kommen. Das oftmalige Wiederholen der vom Versinken ins Vergessen zu rettenden Fakten hatte einen bemerkenswerten Effekt. Nach einigen Durchgängen konnte ich den Zettel schon auswendig erstellen. Die Fabrikation von Schwindelzetteln ist den Schülerinnen und Schülern daher dringend anzuraten.
Als Lehrer wusste ich also um den Wert dieser Lernhilfen, wurde aber dennoch von ihren Einsatzmöglichkeiten überrascht. Und das kam so:
Eine 4. Klasse sollte einen Chemietest schreiben. Die Schülerinnen und Schüler tröpfelten in den Saal, setzten sich auf ihre Plätze und legten ihre Sachen zurecht, Kugelschreiber, Bleistift, Radiergummi, Lineal, was man eben so brauchen könnte. Eine Schülerin, nennen wir sie Sabrina, schließlich hieß sie so, legte mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erstaunte, einen Zettel im A4-Format vor sich hin, der, was ich selbst auf große Distanz sehen konnte, voll beschrieben war mit Formeln. »Sabrina«, sagte ich, »ich glaub, dir geht’s nicht gut.« Ich ging zu ihr hin und nahm den Zettel an mich, was sie protestieren ließ: »Den Zettel dürfen Sie mir nicht wegnehmen. Das ist mein Glückszettel!« Ich betrachtete das Papier genau und bemerkte, dass unzählige Formeln darauf standen, allerdings keine chemischen. Es waren ausschließlich mathematische. Da sagte sie wieder: »Den Zettel dürfen Sie mir nicht wegnehmen. Das ist mein Glückszettel. Der hat mir bei der Mathematikschularbeit Glück gebracht!« Das konnte ich glauben.