Was wünschen Sie sich zu Weihnachten? Den Weltfrieden? Alles andere hat man ja schon. Seit ich nicht mehr ans Christkind schreibe, begnüge ich mich mit dem, was meine Familie zu erfüllen vermag, mit Schwerpunkt auf Bescheidenheit. Obwohl, das mit dem Weltfrieden wäre schon was. Ein weitgestecktes Ziel ja, unrealistisch auch. Na gut, dann zielen wir eben auf etwas Erreichbares. Gewaltfreie Erziehung, wie wäre es damit? Es wäre doch gelacht, wenn es uns nicht gelänge die Erziehenden davon zu überzeugen, dass es keine g’sunde Watschen geben kann.
Über Erreichbarkeit von Zielen ist schon viel geschrieben worden. Die Regeln für die Zielsetzung, für die Zielformulierung, sind logisch erklärbar. In der Praxis misst man ihnen aber wenig Bedeutung bei. Nehmen wir zum Beispiel Clementine. Clementine, die Sanfte, ist frustriert und zwar heftig. Ihr Programm lautet: Keine Gewalt in der Familie. Sie kämpft gegen Gewalt in der Familie, schreibt gegen Gewalt in der Familie und protestiert gegen Gewalt in der Familie. Und das schon seit vielen Jahren. Sie kommt aber ihrem Traum von einem friedlichen Miteinander nicht näher. Macht sie womöglich etwas falsch?
Machen wir einen kleinen Test: Denken wir jetzt alle gleichzeitig an keine Ohrfeige. Achtung – fertig – los! – – – Woran haben Sie gedacht? Ich habe in Gedanken jemandem eine herunter gehauen. Kommt Ihnen ein Verdacht? Ich glaube, unsere Clementine schätzt die Fähigkeit des menschlichen Gehirns falsch ein. Sie meint vermutlich, es könne die Zukunft in negativen Bildern ausmalen. Das kann es aber nicht. Wenn das Gehirn das Wort Ohrfeige wahrnimmt, denkt es an eine Ohrfeige, in welchem Kontext diese Watsche auch immer geboten wurde. Ziele muss man also positiv formulieren. Verneinungen wirken nicht.
Wenn alle Leute wüssten, was das Wort positiv in diesem Zusammenhang bedeutet, hätten wir eine gute Chance unser Ziel zu erreichen. Positiv heißt nämlich nicht gut und negativ nicht schlecht. Was sollte auch an einem positiven AIDS-Test gut sein? Positiv heißt hier Ja, negativ Nein, nicht mehr und nicht weniger. Das lateinische Wort negare bedeutet verneinen, nicht verschlechtern. Falls Sie überprüfen wollen, ob Sie ein negativ formuliertes Ziel erreichen können, rufen Sie ein Taxi und sagen: »Bringen Sie mich bitte nicht zum Rathaus!« Und warten Sie was geschieht.
Bedeutet Gewalt für sich allein genommen etwas Schlechtes? Negativ. Das Wort hat die indogermanische Wurzel ual und bedeutet stark sein, das damit verwandte lateinische valere bei Kräften sein. Schlecht? Warum besetzen wir Worte so gerne mit schlechten Bedeutungen? Womöglich ist sogar eine Ohrfeige beziehungsweise eine Watsche etwas Gutes? Was spricht das etymologische Wörterbuch? Eine Watsche ist ›was scharf‹ macht, ursprünglich ein Gedächtnis schärfendes Mittel. Wenn, zu Zeiten in denen kaum jemand lesen und schreiben konnte, der Vater dem Sohn, sagen wir, die neue Grundstückgrenze zeigen wollte, nahm er ihn mit zu besagter Stelle, und gab ihm eine kräftige Watsche. Damit hat er dem Sohn die neue Grenze hinter das Ohr, wo das Gedächtnis vermutet wurde, geschrieben. Starke Emotion, ausgelöst durch Schmerz oder Zorn, schärft nämlich das Gedächtnis.
Um in der Vorweihnachtszeit den Weltfrieden wenigstens in der Schulklasse ausbrechen zu lassen und der Gewaltfreiheit, wie sie das des Lesens unkundige Volk versteht, mehr Raum zu geben, spielte ich mit meinen Zehnjährigen das Engerl-Bengerl-Spiel. Jedes Kind sollte ein Monat lang auf ein anderes Kind aufpassen, es behüten. Es sollte ihm behilflich sein und ihm hie und da mit einer Kleinigkeit Freude machen. Eine Regel aber gab es: Das Engerl durfte sich dem Bengerl unter keinen Umständen zu erkennen geben. Jede gute Tat sollte im Geheimen geschehen. Erst in der letzten Unterrichtsstunde vor Weihnachten, wenn jedes Bengerl von seinem Engerl ein Geschenk bekommen sollte, würde dieses Geheimnis gelüftet werden. Jedes Kind sollte gleichzeitig Engerl und Bengerl sein. Davon versprach ich mir einen besonders guten Effekt: Wie schön ist es zu wissen, dass man behütet ist. Das Los hatte zu entscheiden, wer wessen Schutzengerl werden sollte. In der Klasse gab es ein besonders kleines Mädchen und einen besonders großen Rowdy, seinem Körperbau und seinem Wesen nach. Sie ahnen schon was passierte. Als die besagte Schülerin, den Namen des wilden Raufers auf ihrem Los sah, nahm sie das mit einem kaum merklichen Zucken zur Kenntnis, schloss kurz die Augen, errötete leicht und setzte sich, beladen mit ihrem schweren Los, auf ihren Platz. Ihr Blick war nach innen gerichtet. Sie hatte ein klares Ziel vor Augen.
Kurz vor Weihnachten wurde ich Zeuge folgender Szene: Kaum hatte die Pause begonnen, stürzte sich der notorische Gewalttäter auf einen Mitschüler, um diesen zu verdreschen. Da sprang das winzige Mädchen blitzschnell auf ihn zu und haute ihm eine schallende Watschen herunter. Der kleinste aller Flöhe attackierte den mächtigsten aller Löwen vor der ganzen Klasse. Der Angegriffene blieb wie angewurzelt stehen, die Bewegung seines massigen Körpers fror ein, als ob eine himmlische Macht auf der großen Zeitmaschine die Stopp-Taste gedrückt hätte. Ich deutete seine starre Haltung als Ruhe vor dem Sturm, näherte mich schnell dem Standbild und sah im Gesicht des Geschlagenen ein verzücktes Lächeln und zwei vor Staunen weit aufgerissene Augen. Seinem Mund entströmte ein gehauchtes: »Jetzt weiß ich, wer mein Schutzengerl ist!«