Die Wahrheit über Sisyphos

Ein seliges Lächeln umspielte seinen Mund. Er hielt die Lider geschlossen und spürte den Eindrücken nach, die sein Glück begründeten. Der warme Sand löste alle Verspannungen aus seinem Rücken, welche sich im letzten Schuljahr peu à peu verfestigt hatten. Die Strahlen der griechischen Sonne erhellten sein Innerstes bis in den letzten Winkel. Haralds Ohren wurden von Lauten umschmeichelt, wie sie nur im Traumland der Sehnsucht ertönen konnten. Wo sonst sollte er jetzt sein? Nur hier war er Mensch, nur hier konnte er sein. Das eine oder andere Wort seiner geliebten Sprache hob sich vom Hintergrundrauschen der sanften Ägäis ab und versetzte ihn in traumhafte Verzückung. Der Traum eines langen Schuljahres war wieder einmal wahr geworden. Er war nicht alleine am Strand und hätte er genau hingehört wären ihm auch Worte aus anderen Sprachen aufgefallen, Worte mit Berliner Färbung, mit Sächsischer oder gar mit Lauten aus seiner Heimatstadt Wien, aber die wurden herausgefiltert, die drangen heute nicht durch. Heute war für Harald Urlaubsbeginn und die Diktion seiner Floridsdorfer Schüler würde ihn bis September nicht abgehen.

Aber wovon träumt ein Griechisch-Lehrer auf griechischem Boden? Träumt er von einer Portion perfekt gewürztem Moussakas, einem Teller Stifado mit einem Glas Retsina oder Athiri? Nun, Harald versenkte sich am liebsten gedanklich in die griechische Mythologie und dazu reichte ihm eine leichte Brise mediterraner Luft. Gestern hatte er Korinth besucht und so war es heute Iason und Medea mit denen die Hauptrollen in seinen Träumen besetzt wurden. Als Harald eilige Schritte in seiner Nähe hörte und dazu heftiges Schnaufen, wandelte er diese Geräusche sofort um in eine Schallkulisse für ein kriegerisches Getümmel. In seiner Gedankenwelt war zwar nicht sofort klar welcher Held wen über den Strand hetzte, aber Schwerter schlugen aufeinander, Schweiß spritzte, vielleicht sogar Blut. Ja, in der griechischen Sage ging es forsch zu. Und bald wieder dieses Getrampel und Gekeuche dicht an seinem Ohr. Als auch noch Sand in sein Gesicht spritzte, hob Harald irritiert den Kopf und blickte einem Läufer nach, der ohne dass ihn jemand verfolgte quer über den Strand lief und mit Schwung auch noch eine beträchtliche Strecke den Hang hinauf. Harald schüttelte seinen staubigen Kopf und bettete ihn wieder im Sand. Wann war er das letzte Mal gelaufen? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Wozu sollte Laufen auch gut sein? Wenn man eine Straßenbahn erreichen wollte, ging man am besten betont langsam. Nichts peinlicher als wenn einem der Fahrer die Tür vor der Nase schließen konnte. Laufen war sinnlos. Harald suchte lieber den Sinn in den mythologischen Schriften. Iason war vermutlich auch nicht gerne gelaufen. Er war bestenfalls mit seinem Schiff, der Argo, ausgelaufen. Vom Laufsport war in der Argonautensage nichts zu lesen. Wozu also? Und wieder dieses Keuchen und Sand spritzen! Was trieb diesen Kerl? Warum lief dieser Bursche wie von Hyänen gehetzt alle paar Minuten den Hang hinauf? Harald setzte sich auf und blickte ihm nach. Der Mann lief barfuß, offenbar so schnell er konnte den Hang hinauf, blieb stehen, drehte um und ging ganz langsam und schnaufend wie eine überhitzte Dampflock den Hang wieder hinunter. Harald erhob sich und suchte Blickkontakt mit diesem rätselhaften Kerl. Er wollte ihn fragen. Was treibt Sie an, wollte er ihn fragen. Wieso tun Sie so etwas Sinnloses. Der Mann kam aber nicht an ihm vorbei und Harald wollte ihm nicht nachlaufen, den Grund dafür kennen wir ja schon. Am Wasser angelangt, ging der Läufer ein paar Schritte in der Brandung, wandte sich dann wieder dem Hang zu, beschleunigte und lief mit vollem Karacho an Harald vorbei die Steigung hinauf bis ihm die Puste ausging. In diesem Moment hatte Harald eine Eingebung, oder war es nur eine Assoziation. Jedenfalls hatte er genug gesehen um eine aufregende Idee zu verfolgen. Vor Begeisterung und vor Staunen über seine eigenen Gedanken leuchteten bald seine Augen. >Heureka< war das einzige Wort, das ihm dazu einfiel, aber es passte genau. Er hatte es! Langsam, um diese Erscheinung nicht zu verscheuchen, ging er an die Stelle der Laufstrecke die seinem Liegeplatz am nächste war und wartete. >Bist du Sisyphos<, sprach er die rätselhafte Gestalt auf Griechisch an. Der Mann schaute verblüfft und hätte sicher auch gelacht, wenn er genügend Sauerstoff für diese Tätigkeit hätte erübrigen können. So ging er nur erschöpft an Harald vorbei, hob aber anerkennend die Faust mit dem nach oben gestreckten Daumen. Das hieß wohl Ja. Harald wusste im Moment nicht was er dazu sagen sollte, und als er es wusste war der Mann auch schon wieder weg. Nachlaufen war in dieser Situation wohl nicht angebracht, ganz abgesehen vom Straßenbahneffekt. Er würde ja wiederkommen. Wenn auf Erden irgendetwas sicher war, dann das. Bei einem Bumerang konnte man es nicht genau wissen, bei Sisyphos aber schon. Der König von Korinth drehte also immer noch seine Runden. Unglaublich! Sein Stein war vermutlich schon längst zu Sand zerfallen. Ja, das ergab Sinn, das leuchtete Harald ein. Während er zusah wie Aiolos‘ Sohn zum x-ten Mal den Hang bewältigte, dämmerte Harald erst die Tiefe des Geschehens. Offensichtlich war er irgendwie in die Mythologie geraten und gleich tief in sie eingetaucht. Er war nun zweifellos ein Teil von ihr. Der erhobene Daumen des Helden war der Beweis dafür. Kopfschütteln stand Harald am Strand und ließ diese Situation auf sich wirken. Das triebhaft sinnlose Tun des Sisyphos führte ihm sein eigenes Leben vor Augen. Wie oft hatte er nicht schon mit seinen Schülern über die Sisyphosarbeit diskutiert, wie oft hatte er nicht schon dieses Wort in Bezug auf seine eigene Tätigkeit mit den Schülern verwendet, und nun war er selbst hautnah dabei. Er rieb sich die Augen. Er zwickte sich in die Wange. Kein Zweifel, er, Professor Harald Glimmbichler, Magister der Philosophie, Kenner der Griechischen Mythologie wie kein Zweiter, war nun Teil der Geschichte. Seine Augen weiteten sich noch stärker als er begriff dass er sogar die Chance hatte in diese Geschichte einzugreifen. Würde er sie aber auch nutzen? Und durfte er das überhaupt? Er war sich natürlich bewusst wie paradox diese Situation war. Er schüttelte den Kopf und lachte hysterisch auf, als Sisyphos wieder an ihm vorbei spritzte. Aber was war eigentlich das Paradoxe an dieser Situation? Dass sie unerwartet war oder das Unglaubliche an ihr? Diese Punkte genügten eigentlich nicht um aus einer Alltagsgeschichte eine Paradoxie zu machen. War diese Sache paradox, weil er, der Griechischlehrer, in einen Traum gefallen war, wie damals Alice ins Wunderland? Nein, das konnte es auch nicht sein. Der Läufer lief doch tatsächlich auf den Hang, das war doch keine Einbildung! Harald war nun ganz verwirrt. Er wusste nicht einmal mehr ob man die mythologische Erzählung von Sisyphus als frei erfundene Geschichte einstufen sollte oder nicht. Sein Gehirn sagte ein zögerliches Ja, sein Herz ein entschiedenes Nein. Erheben Mythen denn nicht Anspruch auf Geltung der von ihnen behaupteten Wahrheit? Harald fühlte sich wie in der Sonne zu lange gegart. Vielleicht sollte er ins Wasser gehen und sich abkühlen. Das würde er übrigens auch Sisyphos empfehlen. Was dieser da machte konnte doch nicht gesund sein. Er musste ihm diesen Vorschlag machen. Vielleicht würde er auch mit ihm in die Strandbar gehen, auf ein Bier. Aber durfte er das? Da kam er auch schon wieder den Hang herab, er der Meister der sinnlosen Arbeit. >Warum läufst du<, rief ihm entgegen, >warum?< Er bekam aber keine Antwort. Vielleicht war Sisyphos tatsächlich so renitent wie in der Sage beschrieben, dann war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Hatte dieses Schlitzohr nicht die Olympischen mehrfach gelinkt? Wurde er nicht von Hermes zu seinem unsinnigen Tun verdonnert, weil er Thanatos, dem Gott des Todes, Fesseln angelegt hatte. Da sind sich die Überlieferungen nicht einig, in diesem Punkt widersprechen sie einander sogar. Es hat also damals schon angefangen mit dieser Paradoxie. Harald ging ins seichte Wasser und setzte sich so, dass ihm der Schaum der brechenden Wellen den Bauch benetzte. Das Wasser war frisch und kühlte rasch sein überhitztes Blut. Aber die salzigen Spritzer brannten etwas in den Augen, also schloss er sie. Vor seinem geistigen Auge erschien sofort der Sisyphos, den er bisher gekannt hatte, der mit dem schweren Stein. Nie und nimmer hätte er gedacht, dass es sich in Wirklichkeit um einen sinnlos Laufenden handeln könnte, noch dazu an einem Sandstrand. Da spürte er eine Bewegung neben sich. Sisyphos hatte sich zu ihm gesetzt. >Hallo<, sagte dieser, >danke für Ihr Mitgefühl.< Harald blinzelte den Helden an. Dieser war zwar ziemlich muskulös, hatte aber eher die Figur eines Mittelstreckenläufers. >Hanglauf ist keine olympische Disziplin,< sagte der Läufer, >das wissen Sie vermutlich. Aber finden Sie das, was ich hier tue, wirklich sinnlos?<

Haralds erhellende Antwort, lesen Sie am besten direkt im Buch:

SAGENHAFTES aus dem WEINVIERTEL und den anderen Vierteln dieser Welt, erschienen in der Edition Weinviertel     ISBN: 978-3-902589-80-4

Erhältlich im Buchhandel oder im Onlineshop des Verlages

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