Die Geschichte von den 2D-Männchen

Ich kann mich nicht genug darüber wundern, dass ich bin. Auch kann mir diesen Umstand nicht erklären. Und ich kenne auch niemanden, der das könnte.

Wie es ausschaut, sitze ich auf einem Planeten, der sich mit seinem Mond in einer halbwegs stabilen Bahn um eine Sonne bewegt, die ihn mit Licht und Wärme versorg, die aber gleichzeitig das Leben auf seiner Oberfläche mit ihrem Sonnenwind bedroht, welcher aber andererseits die lebensbedrohliche interstellare Strahlung von ihm fernhält, so dass sich unter diesen wirren aber glücklichen Verhältnissen Leben entfalten kann. Und ich bin ein Exemplar einer Tierart, die ein intellektuelles Niveau erreicht hat, welches ihr ermöglicht, Inhalte wie diese zu bedenken. Ist das nicht erstaunlich? Ja, das ist es. Und ich kann mich nicht genug darüber wundern.

Natürlich weiß ich, dass mein Weltbild fehlerhaft ist, ich weiß sogar, dass es fehlerhaft sein muss. Ich traue ihm darum auch nicht. Vielleicht wäre es sogar besser, ich machte mir keines. Aber als Mensch bin ich nun einmal ein Augentier, und wir Augentiere machen uns Bilder von allem, was wir nicht einsehen können. Und meine Existenz, ja die Existenz des ganzen Universums kann ich beim besten Willen nicht einsehen.

Wenn ich aber über das Unfassbare an der Welt im derzeitigen Zustand wenigstens sprechen kann, so finde ich für den Beginn des materiellen Universums gar keine Worte. Nach der Urknall-Hypothese stand am Anfang von Raum und Zeit eine Singularität, also ein Zustand unendlich großer Dichte, dem ein plötzliches Expandieren folgte. Mir macht das Wort ‚unendlich‘ Probleme. Dafür ist mein Vorstellungsvermögen nicht groß genug, für die Vorstellung nämlich, dass aus einem dimensionslosen Punkt mit ‚unendlich großer Dichte‘ unser All entstanden sein soll. Das kann ich nicht fassen und weiß mich damit in guter Gesellschaft.

Von nichts kommt nichts, hat mir mein Großvater seinerzeit erklärt. Das konnte ich glauben und das glaube ich, ehrlich gesagt, auch heute noch in Bezug auf die Geburt des materiellen Universums. Die Materie, also der Mutterstoff, wie es im Deutschen heißt, ist nach heutiger Ansicht Energie in einem räumlich-zeitlichen Feld. Anders ausgedrückt, mit der Entstehung der Materie begannen auch erst ihre Eigenschaften zu existieren. Und die Eigenschaften der Materie, um die es mir hier geht, sind Zeit und Raum. Und dieser Raum, von dem wir nur drei Dimensionen unmittelbar erkennen können, dehnt sich aus seit es die Dimension Zeit gibt. Aber, damit ihr das nicht missversteht, ab dem Urknall flogen und fliegen nicht Teile von irgendwas durch den Raum, nein, der Raum selbst ist es, der sich explosionsartig ausdehnt.

Im Alltagvergessen wir meist, dass wir nur vier Dimensionen erkennen können, nur vier von vielen anderen, welche die Physiker gezwungenermaßen postulieren müssen und die bestimmt nichts Transzendentes sind, sondern das Natürlichste der Welt, nur eben für uns nicht erfahrbar. Die fünfte und sechste und alle weiteren gehen uns nicht ab, aus dem Auge, aus dem Sinn, könnte man sagen. Aber Eines können wir mit Sicherheit sagen, Energie kann sich wandeln und hat es offenbar im Urknall radikal getan und tut es in den Schwarzen Löchern noch.

Als ich jung war, hat mir jemand eine wunderschöne Geschichte erzählt. Sie handelt von Leuten, denen es wie mir ergangen ist, welche auch über ihre erkennbare Welt ins Grübeln gekommen sind. Vielleicht sollte ich euch diese Geschichte erzählen, damit ihr versteht, was mich so bewegt. Es ist die Geschichte von den 2D-Männchen. Als ich sie vor vielen Jahren erstmals hören durfte, bekam ich eine Ahnung davon, was Albert Einstein mit der Krümmung des dreidimensionalen Raumes in einer weiteren Dimension gemeint haben könnte, als er versucht hat sich und uns das Wesen der Schwerkraft zu erklären, dieser rätselhaftesten aller Eigenschaft der Materie.

Wir, die wir in dieser Geschichte nicht vorkommen, wissen es nicht, aber unter uns, den evolutionär emporgekommenen Mittgliedern der Art Homo sapiens, deren Körper sich keck in drei räumliche Dimensionen streckt und der offenbar auch der gnadenlos fortschreitenden Zeit seinen Tribut zollen muss, leben Wesen, deren Körper um eine räumliche Dimension weniger zeigt als unserer und die daher auch nur zwei räumliche Dimensionen erkennen. Stellt euch das einfach vor, dann könnt ihr dieser Geschichte etwas von ihrer Wahrheit entnehmen. Der Körper dieser 2D-Männchen, wenn man hier überhaupt von einem Körper sprechen kann, ist flach wie eine Zeichnung oder Fotografie. Aus Gründen, die nur der Geschichtenerzähler kennt, konnten die Menschen die 2D-Männchen sehen, nicht aber umgekehrt. Wie ihr wisst, ist es uns ein Leichtes, eine Fotografie zu betrachten. Wir nehmen aber nicht an, dass es einer Fotografie gelingen könnte uns wahrzunehmen. Ein schlechter Vergleich, ich weiß. Fotos leben ja nicht, aber diese 2D-Männchen leben in dieser Geschichte. Sie erleben aber von dieser Welt nicht so viel wie wir, da wir ihnen, wie gesagt, um eine Dimension voraus sind.

Eines Tages, die Menschen konnten nicht erkennen, was an diesem Tag so besonders war, feierten die 2D-Männchen ein Fest. Es muss ein großes Fest gewesen sein, da sie ausnahmsweise etwas in besonders großem Maßstab taten, was sie in ihrem Alltag auch gerne taten, nur eben nicht so groß. Aber was tun 2D-Männchen gerne? Was könnte ihre größte Freude sein? Na, Zeichnen natürlich. Sie zeichnen für ihr Leben gerne. Und am liebsten zeichnen sie geometrische Figuren. Und ihre Wissenschaftler lieben es, diese Zeichnungen genau zu vermessen. Das ist für sie das Größte. An diesem besonderen Feiertag zeichneten unsere zweidimensionalen Mitbewohner unter unseren Augen ein besonders großes Dreieck. Eine Ecke dieses riesigen Dreieckes kam in einer Ecke unserer Welt zu liegen, die wir Madrid nennen, eine weitere Ecke lag in der Nähe von Athen und die dritte Ecke zeichneten sie irgendwo in Dänemark. Und am Höhepunkt ihres Festes maßen ihre klügsten Flachköpfe, die breitesten Wissenschaftler des ganzen Flachlandes, die Winkel dieses Riesendreiecks. Unsere Artgenossen konnten hören wie sie die Messergebnisse in ihrem ganzen Land verlautbarten. Aus Madrid kam die Meldung: „Der Winkel beträgt genau 60°.“ Jubel brandete auf. Die 2D-Leute freuten sich sehr. Kurz darauf meldete die Messstation bei Athen: „Unser Winkel misst ebenfalls exakt 60°.“ Die Männchen waren begeistert. Aber dann meldeten sich die Strichmännchen aus Dänemark. Mit belegter Stimme meldete der Reporter: „Unsere Wissenschaftler messen 65°!“ Was für ein Schock! Entsetzen machte sich hörbar breit. Nach einer kurzen Zeit der Schockstarre, einer Zeit des kollektiven Luftanhaltens, vielleicht glaubten manche an einen Witz, den der Reporter gleich aufklären würde, kam wieder Leben in die Veranstaltung. Man sprach kleinlaut von einem offensichtlichen Messfehler. Schließlich wusste jedes 2D-Kind, dass die Winkelsumme jedes Dreieckes immer 180° war. Warum sollte das am Tag der Tage anders sein? Also hat man nachgemessen. Ich mache es kurz. Auch diese Messung brachte das gleiche Ergebnis. Man hat diesmal besonders genau hingesehen. Die Schenkel des Dreieckes waren zweifellos schnurgerade, aber die Addition der gemessenen Winkel ergab tatsächlich wieder 185°. Die 2D-Männchen verstanden die Welt nicht mehr.

Aber dann erlebten unsere Zeit- und Raumzeugen etwas Einmaliges, nämlich einen Moment der intellektuellen Niederkunft. Dem klügsten aller 2D-Männchen fiel nämlich etwas ein, aus welcher Dimension dieser Gedanke auf ihn nieder kam, war für unsere Zeugen allerdings nicht ersichtlich. Dieser klügste alles Flachmänner, ein gewisser Alfred Zweistein, sagte mit Bedacht: „Liebe Brüder und Schwestern, ich habe einen unheimlichen Verdacht. Wir haben es möglicherweise gar nicht mit einem Messfehler zu tun. Das unerwartete Messergebnis muss wohl an der Größe des Dreiecks liegen. In dieser großen Skala gelten wohl andere Naturgesetze. Was ist, meinte Herr Zweistein, wenn unsere zweidimensionale Welt in einer dritten, für uns nicht erkennbaren Dimension, gekrümmt ist?“

Die Menschen, die diesem Blitz des Geistes beiwohnen durften, applaudierten spontan, da sie ja wussten, wo die 2D-Männchen ihr Dreieck aufgezeichnet hatten, auf der Erdkugel nämlich. Und wie sie wussten, wie wir wissen, haben Dreiecke, die auf eine Kugel gezeichnet werden, immer eine Winkelsumme, welche größer als 180° ist, da sich ja durch die Krümmung der Kugeloberfläche die Winkel des Dreiecks spreizen.

Und noch etwas großartigen geschah in diesem Moment. Den menschlichen Zeugen dieses Geschehens kam einen wunderbarer Verdacht. Vielleicht waren manche ihre unglaubwürdigen astronomischen Messungen entgegen ihrer Befürchtung doch nicht fehlerhaft. Vielleicht waren ihre Messdaten korrekt, möglicherweise deuteten sie aber auf eine Eigenschaft der Raumzeit hin, die für das menschliche Sensorium nicht erkennbar ist. Und könnte nicht auch, es ist nur so eine Idee, man getraut sich diesen Gedanken gar nicht auszusprechen, könnte nicht auch Albert Einstein vom Riesendreieck der 2D-Männchen erfahren haben, bevor ihm der große Gedanke an die Krümmung des 3D-Raumes in einer weiteren Dimension eingefallen ist, aus welcher Dimension auch immer? Wir wissen es nicht. Darüber hat Einstein bis an sein Lebensende kein Wort verloren.