Die Bischofsmütze

Endlich schickte die Sonne ihre Stahlen wieder ins Tal. Michael saß auf der Bank am Rand des Waldes und hielt ihnen sein Gesicht entgegen. Wenn er die Augen schloss, wärmten sie seine Lider und füllten ihm den Kopf mit warmem Licht bis in die hinterste Ecke. Sogar die finstersten Gedankengänge wurden so ausgeleuchtet. Da kam zwar so manches ans Licht, blieb aber dennoch unter der Decke. Ja die Wärme und das Licht, diese beiden Kinder der Sonne, waren ihm die liebsten. Hätte man ihn gefragt, wonach er sich am meisten sehnte, wären ihm sicher Wärme und Licht eingefallen. Aber lange konnte er seinen Kopf nicht der Sonne zuwenden, zu schön war das, was sie beleuchtete. Zu seiner Rechten erhob sich der Gosaukamm in einer Pracht, wie er sie in den letzten Tagen vermissen musste. Die Regentage der letzten Woche hatten Michael die Sicht auf seine Berge genommen. Dass die Bauern das Wetter begrüßt hatten, war ihm schon klar und er hatte ihnen den Regen auch von Herzen gegönnt, aber die Bischofsmütze in natura zu sehen war ihm tausendmal lieber als nur das kleine Bildchen zu betrachten, das in seiner Stube hing. Dieses war wundervoll gemalt, da war nichts auszusetzen, aber doch in groben Strichen, nicht so fein wie es die Sonne zustande brachte. Für Michael war die Bischofsmütze mehr als ein Berg. Ihre Form barg etwas, was er nicht so richtig deuten konnte oder noch nicht deuten konnte oder noch besser, was er sich selbst noch nicht eingestehen mochte. Offenbar brauchte er ihren Anblick, um sich darüber klar zu werden. »Griaß di Gott, Pfarrer!« Den alten Entacher-Bauer hatte er gar nicht kommen hören. »Jetzt hat das Michaels-Bankerl wieder ihren Besitzer, ha ha!« Das steile Wegerl hatte ihm ein bisschen die Luft genommen. »Grüß dich Gott, Entacher, du bist heute aber flott auf den Beinen. Setz dich zu mir!« Das Bankerl hat seinen Besitzer wieder, hat der Entacher gemeint. Sehr witzig. Es war aber schon recht, dass die Leute wussten, wo er am liebsten saß, man sollte auf einander schauen. Und der Alte durfte so mit seinem Pfarrer reden, keine Frage. Michael hörte ihm gerne zu. So alt er auch war, er stand mitten im Leben, kannte die Leute und wusste, was in der Gemeinde vorging. Er wusste bestimmt auch, dass Michael gerne Pfarrer hier im Tal war. Mit seinen Schäfchen kam er gut zurecht und sie kamen gut mit ihm aus. Sie schätzten die Art, wie er ihnen die Schrift auslegte. Ihr Leben war hart genug, sie brauchten dazu keine harten Worte. Und es gefiel ihm hier gut, im Sommer wie im Winter. Von den wenigen Auswärtigen, die durchs Tal kamen, konnte man hören, hier wäre das Moos grüner als anderswo, hier wäre der Boden zwischen den Bäumen wie mit weichem Filz ausgelegt. Das konnte schon sein. Michael war ja oft in Altenmarkt draußen und manchmal sogar in der Stadt Salzburg, da hatte er einen Vergleich. Hier war das Moos wirklich teppichweich filzig. »Es is no koana oben gwesn«. Der Bauer deutete auf den Berg mit den zwei Spitzen. »Die traun si net dem Bischof auf sei Mützn steign, ha ha!« Michael saß wohl schon zu lange in der Sonne. Er spürte, wie sich plötzlich seine Wangen röteten. Ja, der Alte kannte die Leute in der Gemeinde und offenbar auch ihren Schäfer. Natürlich wollte Michael seinem Bischof nicht auf den Hut steigen, welch abwegiger Gedanke, ob er aber auf diesen sonderbaren Berg gehen wollte, war eine ganz andere Frage. Dem Bischof auf den Hut steigen, was für ein Unsinn. Symbole sind was Feines, damit konnte man wunderbar spielen, er tat das ja in der Predigt auch oft, aber hier war das Symbolische zweifelsfrei total überzogen. Er sollte lieber aus der Sonne gehen, aber der Bauer ließ ihn nicht. »Wos bist denn so stad, Pfarrer?« Stimmt, bisher hat nur der Entacher geredet, Michael sollte auch etwas sagen, am besten etwas Unverfängliches. »Es ist ein wunderschöner Berg, diese Bischofsmütze, nicht?« Der Bauer blickte ihn lange an. »Gfoit da denn dei Pfaffnkappl neamma?« Das saß. Michael wollte heute Abend darüber meditieren und bis dahin am besten schweigen.

Wann ist eigentlich eine Karriereleiter zu Ende? Wann steht man auf ihrer letzten Sprosse? Und wo sollte man diese Leiter überhaupt anlehnen? Michael hatte gut gegessen, saß am Ofenbankerl und sinnierte. Die Wärme kam nun von hinten, sie tat ihm gut, aber das Licht der Petroleumlampe verströmte kaum Zuversicht. Er erinnerte sich noch gut an die freudige Wärme, die er vor Jahren in einer anderen Stube empfunden hatte. Seine Eltern hatten ihm eines Abends eröffnet, sie hätten mit dem Lehrer geredet und gemeinsam beschlossen ihn ins Seminar zu schicken. Wenn er nur wollte, und dass er wollte, stand für sie fest, undenkbar, dass er das nicht wollte, wenn er nur wollte, dürfte er Priester werden. Seine Schwestern saßen dabei und strahlten Michael an. Priester durfte er werden. Er würde Priester werden, gab es etwas Besseres? Den Hof konnte auch der Bruder übernehmen, der wollte das sowieso. Priester war das Höchste. Und nun saß er in seinem Pfarrhaus und sinnierte. Heute Abend reichte sogar das gedämpfte Licht der alten Lampe, um seine geheimsten Wünsche aus dem Schatten zu locken. Aber warum hatte er eigentlich geheime Wünsche? War denn nicht alles gut? Die Leute im Dorf sprachen gut über ihn. Sie lobten seine Weisheit. Er sei ein guter Hirte, sagten seine Schafe, aber das waren ja nur Dörfler. Seine Predigten wären eine praktikable Richtschnur, sagten sie mit ihren einfachen Worten, aber seine Worte, so laut er sie auch sprach, füllten nur die kleine Kirche. Bei der roh gezimmerten Türe war Schluss. Sollte diese Kirchentür das Ende seines Wirkungsbereiches sein? War seine Karriere hier zu Ende? Stand er auf der letzten Sprosse seiner Karriereleiter? Oder konnte er diese Leiter noch ganz wo anders anlehnen? Suchend schaute er sich um und erblickte an der Wand gleich neben dem Kruzifix das Bildchen. Langsam ging er näher. Die Bischofsmütze war ein faszinierender Berg und sie war gar nicht hoch, nur ziemlich steil, das schon. Aber unerreichbar schien sie ihm nicht zu sein.

Wenn er nur leiser auftreten könnte. Wenn es ihm nicht gelänge leiser zu marschieren, würde er noch die Hähne wecken. So früh war er seit seiner Studentenzeit nicht mehr aufgestanden. Seine festen Schuhe ließen die Steinchen auf dem schmalen Weg nur so wegspritzen. Leiser, Michael, es muss dich nicht jeder hören. Was, wenn sie dich nach dem Wohin fragten? »Bringst wem die letzte Ölung, Pfarrer?« – »Nein, ich gehe nur auf die Bischofsmütze, ich werde sie als erster Mann besteigen.« Nach einem Gespräch dieser Art hatte er kein Verlangen. Er verließ den Weg und ging über die Wiesen, querfeldein und leise wie ein Dieb. Noch gestern hatte er den Rucksack aus dem Kasten geholt. Und gleich nach dem kurzen Morgengebet hat er heute eine ordentliche Jause mit Brot und Speck hineingetan, mitsamt einer Flasche mit Brunnenwasser, die er vorsorglich in seine Lodenjacke gewickelt hat. Vielleicht war es am Fuße des Berges notwendig sein Priestergewand gegen praktischere Oberbekleidung zu tauschen. Das war für ihn Neuland. Am Fuß der Bischofsmütze war er noch nie, dort wäre für ihn auch Neuland. Nach einer geraumen Weile, die Sonne zeigte sich gerade am Horizont, kam er an einem Bauernhof vorbei. Durch die offene Stalltüre sah er die Bäuerin. Sie saß auf einem Schemel und war beim Melken. Michael ging nicht näher, er sah aber selbst aus der Entfernung ein Bild voll Stimmigkeit. Die Kuh genoss es sichtlich von der vertrauten Person gemolken zu werden. Und von der Frau ging eine zufriedene Ruhe aus. Die beiden waren auf einander abgestimmt. Michael spürte es, sie mochten einander. Im Weitergehen nahm er das Bild mit. Die Bischofsmütze kam nur langsam näher. Michael ging nicht zu schnell, er wollte mit seinen Kräften haushalten. Er sprang über ein kleines Bächlein, durchschritt einen schmalen Föhrenwald und kam bald auf eine weite Fläche mit spärlichem Baumbewuchs. Das Bild, das sich ihm hier bot, ließ ihn anhalten. Er lehnte sich an einen Baumstamm und blickte fasziniert auf die Szene. Ein Hirte stand ruhig auf einer kleinen Anhöhe und überblickte seine Schafherde. Das war ein Bild wie aus der Bibel. Grasende Schafe auf einer saftigen Weide und in ihrer Mitte der Schäfer mit seinem Hund. Michael hätte das für ein Gemälde halten können, wären nicht die langsamen Schritte der Schafe, ihr Schnaufen, das kleine Wölkchen aus der Pfeife des Mannes und die stummen Bewegungen der etwas größeren Wolken am nun schon blauen Himmel. Auch sie sahen aus wie Schäfchen. Wäre nicht der Hund neugierig näher gekommen, hätte er sich kaum losreißen können. Er winkte dem Hirten und wandte sich wieder seinem Ziel zu. Wie er aber so in seinem schwarzen Priestergewand über den Almboden schlich, in den genagelten Schuhen, mit dem schäbigen Rucksack und seiner schwarzen Kopfbedeckung, bot er einen Anblick als ob er über alle Berge wollte. Aber er rannte doch nicht davon, oder? Nein, bestimmt nicht, er wollte sich nur einer neuen Herausforderung stellen. Er wollte hinauf zur Bischofsmütze.

Und diese kam näher, mit jedem Schritt ein bisschen. Je näher sie kam, desto mehr zwang sie ihn zu ihr aufzuschauen. Er hatte schon höhere Berge gesehen, er war aber noch nie einem Berg nahegetreten, um ihn zu besteigen oder ihn gar zu besiegen. Mit Eitelkeit hatte dieser Gedanke gar nichts zu tun, es ging lediglich um die Frage, ob man tun sollte, was man tun kann. Die ganze Bergsteigerei drehte sich ja darum. Aber nun, da es darauf ankam, begann er zu zweifeln. Er fragte sich, wie er sich dieser Kalkspitze gegenüber verhalten sollte. Und da war noch etwas. Er bemerkte nämlich erst jetzt, da er schon zu ihren Wänden hochstieg, dass ihm eine Entscheidung bevorstand. Die Bischofsmütze hatte ja, wie jede andere Bischofsmütze auch, zwei Teile. Und er hatte sich noch nicht überlegt, welchen er besteigen sollte, den linken oder den rechten? Er blieb ratlos stehen. Um ihn herum lagen auf der Wiese große Steine, alle paar Meter einer. Er fragte sich, war das Gras über eine Steinplatte gewachsen, von der jetzt nur mehr die Spitzen herausschauten oder waren all diese Steine von den bischöflichen Mützenspitzen herab gefallen? Wenn man sich zwischen A und B entscheiden soll und nicht kann, hilft es manchmal ein wenig über C nachzudenken. Michael setzte sich auf einen Stein, blickte zu den beiden Spitzen hoch und sagte laut: »Krisis – griechisches Wort für Entscheidung«. Ja, so war er, der Michael. Da befand er sich in einer Krise und redete sich das Problem klein, indem er seine verstaubten Griechisch-Kenntnisse hervorkramte. Aber er hatte ja recht. Eine Krise ist nichts anders als eine Situation, in der eine Entscheidung fällt, was heißt fällt, Michael lebte richtig auf bei dem Gedanken, sie fällt nicht, sie wird gefällt. »Ich entscheide«, rief er laut, »ich, sonst niemand!« Michael war nicht dumm, er wusste natürlich, dass es nicht um die Frage ging, ob er die linke Spitze in Angriff nehmen sollte oder die rechte. Es war egal, auf welche Spitze er es treiben wollte, nur sollte er unbedingt irgendwas tun. Also erhob er sich, schulterte seinen Rucksack, zog sich die Hose noch einmal ordentlich hoch und ging entschlossen auf die nähere Spitze zu, es war die linke. Mutig ging er auf die Wand zu, die sich höchstens dreihundert Schritt vor ihm fast senkrecht erhob. Die mit Felsen übersäte Wiese ging in einen Schuttkegel über, was seinen Schritt aber in keiner Weise verlangsamte. Er näherte sich der Wand und er wusste, wenn er nicht in die Wand hineinrennen wollte, musste er früher oder später stehen bleiben. Und er blieb stehen. Es ging gar nicht anders. Er war ja noch nie geklettert. Aber noch hatte er nicht verloren. Langsam hob er seinen Blick, legte den Kopf in den Nacken und schaute fast senkrecht die Wand hoch. Die Sonne stand im Zenit und brachte sein Gesicht in Sekundenschnelle zum Glühen. Er sah keinen Gipfel, er sah keinen Weg, er sah überhaupt nichts. Aber er fühlte etwas. Er fühlte, wie sich sein Pfaffenkappel löste und langsam vom Kopf rutschte. Dann hörte er einen leisen, dumpfen Schlag, als es hinter ihm auf den Boden fiel. Michael drehte sich um und bückte sich, um es aufzuheben, konnte es aber nicht mehr sehen. Er hatte zu lange in die Sonne geschaut und war nun wie blind. Er hatte sich selbst mit Blindheit geschlagen. Noch hatte er aber nicht ganz verloren. Er musste nur warten, dann würden seine Augen wieder ihren Dienst antreten, das wusste er. Also setzte er sich mit dem Rücken zur Wand und schloss die Augen. Wenn man einen Sinn ausschaltet, schärfen sich die anderen, das wusste er auch, war aber überrascht, dass er neben den Windgeräuschen der Höhe und dem Geruch der Weite auch etwas sah. Ein Bild entstand vor seinen Augen. Es war das Bild, das er sich seit den Morgenstunden bewahrt hatte. Eine mit sich und der Welt im Einklang stehende Bäuerin saß neben einer Kuh auf einem Schemel. Und er spürte ihre Freude daran. Und dann erschien das Gemälde vom guten Hirten. Umringt von seinen Schafen stand er am besten Platz, den man sich für einen Hirten nur denken konnte. Dieses Bild sagte ihm noch viel mehr. Wie blind er doch war. Auf seinem Weg zur Bischofsmütze hatte er ja schon alles vor Augen. Wo war denn der beste Platz für eine Bäuerin? Bei den Kühen. Und wo war der beste Platz für einen Seelsorger wie ihn? Bei den Menschen seiner Gemeinde. Wie blind er doch war. Aber jetzt gingen ihm die Augen auf. Vor ihm lag sein Pfaffenkappel im Dreck. Er hob es reumütig auf, putzte es ab und setzte es feierlich wieder auf. Dann öffnete er seinen Rucksack, holte das Brot heraus und den Speck, legte beides auf einen Stein, nahm einen ordentlichen Schluck aus der Wasserflasche und freute sich über den neu gewonnenen Ausblick.

Der Rückweg war leicht. Nicht nur weil es bergab ging, es ging auch der wiedergewonnenen Freude an seiner Berufung entgegen. Als er ins Dorf zurückkam, marschierte er nicht gleich in den Pfarrhof. Er wollte noch kurz auf seinem Bankerl rasten und der entfernten Bischofsmütze noch einen letzten Blick zuwerfen. Er setzte sich, blickte zuerst der schon tiefstehenden Sonne nach und wandte dann wie üblich seinen Blick den beiden unbezwinglichen Felsspitzen zu. »Griaß di Gott, Pfarrer!« Der Entacher hatte sich wieder angeschlichen. »Grüß dich Gott, Entacher, du bist heute aber flott auf den Beinen. Setz dich zu mir.« Umständlich setzte sich der Alte und musterte Michael danach lange. »Sog Pfarrer, host du dir dein Pfaffnkappl dreckig gmocht?« Dieser freute sich ihm antworten zu können: »Ja, leider. Aber eines kann ich dir sagen, heute gefällt es mir trotzdem besser als gestern.« Nach längerem inhaltsschwerem Schweigen sagte der Bauer: »Die Leit sogn, du wärst heit aufn Berg aufe, stimmt des?« – »Ja, ich bin zur Bischofsmütze gegangen, das ist wahr, aber hinauf bin ich nicht. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht hinauf gekommen. Und weißt du warum? Ich kenne mich gut genug aus in dieser Welt, um zu wissen, ohne Seilschaft kommt da keiner hinauf.«

„Die Bischofsmütze“ und 26 weitere Geschichten stammen aus dem Buch

SAGENHAFTES  aus  dem  WEINVIERTEL  und  den  anderen  Vierteln  dieser  Welt“.                                                               

Es ist im Buchhandel oder beim Verlag EDITION WEINVIERTEL erhältlich

ISBN: 978-3-902589-80-4

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