Dialog im Dunkeln

»Die beiden haben gerade im wahrsten Sinne des Wortes ihren Traum begraben und stehen immer noch unter Schock. Da möchte ich von euch keinen herunter geleierten Text hören.« Es war Wessmann, der sprach. Wessmann war nicht irgendwer. Er hatte sich als Coautor des Stückes vom Vorjahr einen Namen gemacht und feierte heuer mit dem Nachfolgestück sein Regiedebüt. »Die Leute kommen von der Arbeit, streiten innerlich noch mit dem Chef, haben ihre Kinder abgefüttert und bei der Oma abgegeben. Die müssen im Theater erst ankommen.« Mit Theater meinte Wessmann die Freilichtbühne am Wagram, in der er sich zur Zeit aber nicht befand. Er war mit den beiden Darstellern, sein Stück war ein Zweipersonenstück, in seinen Obstgarten gegangen, hatte sich, da es ein warmer Frühlingsabend war, mit dem Ensemble auf Strohballen gesetzt und war nun dabei ihnen die Stimmung zu vermitteln, in die sie ihre Zuhörer versetzen sollten. Zuhörer ist schon das richtige Wort. Um von Zusehern sprechen zu können, müssten diese die Darsteller ja sehen können. Sein Regieeinfall war aber, die beiden Darsteller im Dunkel der Nacht sprechen zu lassen. »Die beiden sind mit Jehoschua jahrelang am Weg gewesen,« setzte er die Einweisung fort, »sie haben ihre Berufe aufgegeben und haben sich ganz auf ihren Rabbi eingelassen. Simon war ja ursprünglich ein Fischer aus Kapernaum, einem Ort am See Genezareth. Gerade hat er seinen zu Tode geschundenen Lebensmenschen begraben und ist am Boden zerstört. Und den Judas hält er für nicht ganz unschuldig. Das muss das Publikum mitkriegen. Also fühlt euch hinein in die beiden Männer. Klaus, du sollst den Simon nicht spielen, du bist Simon. Und du, Herbert, du bist Judas.«

Simon Petrus mit Klaus zu besetzen hatte sich angeboten. Klaus war eine Stütze des Pfarrers, ein Ministrant seit Kindestagen, bibelfest wie ein Schriftgelehrter und akkurat wie ein Eintreiber der Kirchensteuer. Von Beruf war er, sehr zum Nutzen seiner Kinder, Volksschullehrer. Herbert stellte alles in Frage. Er war Fotograf und liebte die jeweils andere Perspektive, die Beleuchtung aus der anderen Ecke oder gar das Gegenlicht. Nur unterbelichtet war er nicht.

»Ihr nehmt euer Publikum mit hierher, an euren Zufluchtsort, zu dem nur Eingeweihte mitkommen dürfen, zu dem nur Freunde Zugang haben. Hier hat Jehoschua vor Angst Blut geschwitzt. Noch gestern war er mit euch hier, und hier ist er schließlich von den Römern verhaftet worden. Du, Simon, hast gestern noch mit dem Schwert um ihn gekämpft und heute sitzt du da, aus allen Wolken gefallen, nichts als Leere in Kopf und Brust. Die verhassten Römer haben euren Freund, euren Herrn und Meister, zu Tode gequält. Sie haben ihn vor aller Welt erniedrigt, verspottet, wie einen Verbrecher bis zur Erschöpfung gegeißelt, ans Kreuz genagelt und in der Sonne sterben lassen. Ihr habt all das mitansehen müssen, aber kapiert habt ihr es nicht. Ihr habt sogar gehört, wie euer geliebter Freund, der den allmächtigen Gott mit „Papa“ angesprochen hat, vor seinem Sterben „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ gesungen hat. Versteht ihr das? Das Publikum versteht es nicht. Und ihr zwei versteht es auch nicht.«

Wessmann wollte ursprünglich den Judas selbst spielen. Aber er traute es sich dann doch nicht zu. Abend für Abend denselben Text zu sprechen, konnte er sich nicht vorstellen. Aber jetzt erwartete er von Herbert, dass dieser den Judas genauso spielte, wie er ihn sich ausgemalt hatte. »Ihr zwei klammert euch aneinander wie Geschwister im Gewitter. Auch wenn ihr euch noch vor zehn Minuten um ein Feuerwehrauto gestritten habt, jetzt seid ihr einander die einzige Stütze.« Er wollte seine Darsteller gar nicht fragen, wie sie ihre Rollen anzulegen gedachten. Er wusste ja, was richtig war. Zu seiner Überraschung ergriff aber Klaus das Wort. »Wir beide sollen einander stützen? Wie denn das? Ich halte den da ja für einen Verräter.« Das „Den da“ kam voll Verachtung. »Das tut das Publikum auch, es kennt ja die Bibel. In Judas sehen sie das Böse und du, Simon, bist der Gute. Dass du Jehoschua noch in der letzten Nacht mehrfach verleugnet hast, nimmt dir das Publikum nicht weiter übel.« Wessmann stand auf, entfernte sich einige Schritte von den beiden ziemlich besten Freunden, setzte sich auf einen Strohballen und gab das Kommando. »Also los jetzt!«

Simon begann: »Wos is da denn do eingfoin? Kannst du mir des erklärn?« – »Es is des Beste, glaub ma des, des Beste für uns olle.« – »Judas, bist narrisch? Wia kannst du sowos sagn? Erklär ma bitte, was do guat daran sein soll.« – »Du host doch selber g’hert, was da Jehoschua gsogt hot. „Nehmt mich“, hot a zu die Römer gsogt, „nehmt mich, diese lasst gehen!“« Man sah es nicht wirklich, man konnte aber ahnen, wie sich Simon ans Hirn griff. »I hob di scho amoi gfrogt, obst narrisch bist. Wos hot denn des damit z’tuan? I verstehs net.« – »Mir sollten jetzt aufhörn. Sonst hoin sie uns a no, an nochn andern.« – »Wo host du den Bledsinn her? Geh, Judas, bitte erzöh ma amoi, wia du auf den Bledsinn kummst.« Eine kleine Pause entstand, in der Judas Ischarioth mit sich zu kämpfen schien. Dann aber begann er zu erzählen. »Vor a poor Tog, i bin a bissl durch Jerusalem spaziert, pockn mi plötzlich zwa stoake Mauna bei de Oberarm, da ane links, da aundare rechts, und schleifen mi in a Eck.« – »Du bist überfalln worn? Warum erfoa i des erst jetzt?« – »Na, huach, glei wirstas wissen. Sie schleifen mi in a Eck, wo ana steht. Der sogt: „Folge mir, Judas Ischariot, folge mir ohne Widerstand“!« – »Wer woa des?« – »Na, huach weida. Mir gengan in den Tempö, er vorau, dann i und daunn die zwa. In an ziemlich großn Zimma, i hob goa net gwusst, doss duat solche Zimma gibt, san drei gsessn. I hobs net kennt, oba sie haben gsagt, dass wer san. Und ohne gressare Umschweife sogt da Mittlere von die drei, „Judas Ischariot, der Tempel erhebt gegen dich Anklage wegen Volksverhetzung und Verführung der Gläubigen.“ Und dann hams mi ausse gführt. In an Verlies bin i stundenlaung gsessn und hob mi gfiacht.« – »Die Priester ham di eigsperrt? Aba wieso hamst di net glei ghoitn? Warum hams di wieda frei lossn?« – »Noch a poor Stund, es woa scho finsta, hams mi wieda ghoit. Da Mittlare hot wieda gredt, die zwa aundan haum zerscht nua gschaut. „Du bist nicht der einzige, den wir anklagen. Euer Rabbi hat es übertrieben. Wir haben ihn schon mehrmals verwarnt, aber er will ja nicht hören.“ Er woa eigentlich ziemlich freindlich. Er hot ma nur den Sochverhoit erklärt. „In diesen Tagen sind viele Menschen in Jerusalem,“ hot a gsogt, „viele gläubige Menschen, die mit uns friedlich das Paschafest feiern wollen. Und da wollen wir keinen Aufruhr. Und was für euch noch viel schlimmer ist, die Römer wollen keinen Aufruhr. Wenn die Römer irgendetwas nicht wollen, dann ist das Aufruhr. Und ihr rührt auf!“ Do is er laut worn. „Darum ist es beschlossene Sache, dass wir auf euren Rädelsführer zugreifen werden. Er wird das Paschafest nicht mehr erleben.“« Wessmann hörte, wie Simon Luft holte. »Hast du das dem Jehoschua hinterbracht? Judas, hast du ihm das berichtet?« – »No am gleichen Obend hob i eam des dazöt.« – »Und, was hat er gesagt?« – »Er hat stumm genickt.« – »Stumm genickt hat er?« – »Ja, er hat stumm genickt. Aber, als er mich kurz an sich gedrückt hat, war er anders als sonst. Er war nicht mehr der große Lehrer. Als ob er sich Kraft geholt hätte, verstehst du? Als ob er sich bei mir Kraft geholt hätte.« Die beiden Schauspieler sprachen plötzlich Hochdeutsch. Der Obstgarten am Wagram befand sich plötzlich vor den Toren Jerusalems. »Aber hör nur, wie es im Tempel weitergegangen ist. Plötzlich sagt der Mittlere zu mir: „Ich habe dir gesagt, dass ihr alle angeklagt werdet. Simon, Johannes und wie sie alle heißen, alle werden sie angeklagt. Die Römer fackeln in solchen Fällen nicht lange. Der Kaiser liebt keine Aufrührer.“ Dann wurde der links Sitzende unruhig. Er gab dem Mittleren ein Zeichen. Dann steckten die drei die Köpfe zusammen und diskutierten leise, aber heftig. Du darfst mir glauben, Simon, ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal frei kommen würde. Und dann sagt der Linke mit freundlicher Stimme zu mir: „Judas Ischariot, wir haben einen Entschluss gefasst.“ Sein gütiger Blick hat mir etwas Hoffnung gegeben. „Ihr sollt leben! Ihr, die ihr euch bisher dem heiligen Tempel gegenüber loyal verhalten habt, sollt leben. Der Tempel schenkt euch das Leben. Die Gefangennahme von Rabbi Jehoschua lässt sich nicht umgehen. Aber ihr anderen könnt den ruhigen Ablauf des Pascha-Festes dadurch retten, dass ihr nach Hause geht, dass ihr einfach nach Hause geht. Jeder gehe in seine Stadt. Das ist bestimmt auch im Sinne eures Rabbi.“«

Obwohl kein künstliches Licht den Garten erhellte, war zu erkennen, wie Simon bei diesen Worten erschrak. Das Licht der fernen Sterne reichte aus, um sein Entsetzen zu zeigen. »Und du bist frei gekommen, um uns nach Hause zu schicken? Ist das so, Judas, ist das so?« Endlich war es gesagt, aber Judas bekräftigte die letzten Worte noch. >Ja, genau so ist es. Ich habe noch gestern beim Abendmahl mit Jehoschua darüber gesprochen. Ihr habt es ja selbst gehört. Er war auch der Meinung, dass es das Beste sei. Hast du denn nicht seine Worte gehört, welche er dann hier unter diesen Ölbäumen zu den Soldaten gesagt hat? „Nehmt mich, diese lasst gehen!“ Und glaub mir, es ist das Beste, wenn wir Jerusalem verlassen und gehen, wie Jehoschua es angeordnet hat.« – »Aber Judas, wenn wir uns in alle Winde zerstreuten, wenn wir in unsere Dörfer zurück gingen, um Fische zu fangen, um Leder zu verarbeiten, um Getreide anzubauen, wäre das nicht ein Verrat an der Sache, wäre das nicht Verrat an Jehoschua?« – »Nehmt mich, diese lasst gehen! Jehoschua wollte für uns sterben, verstehst du denn nicht? Und er ist für uns gestorben!« Klaus, der diese Worte als Ministrant schon unzählige Male gehört hatte, verstummte. Dass er aber aufs Höchste erregt war, hörte man an seinen tiefen, immer schneller werdenden Atemzügen. »So ist das aber nicht gemeint, Herbert«, stieß er dann heftig hervor, »Jesus ist für alle gestorben, auch für dich und mich. Jetzt verstehe ich erst, was hier passiert. Du bist ein Verräter, Herbert, du bist ein Verräter!«

Wessmann hielt es für richtig, die Probe an dieser Textstelle für heute zu beenden. »Ihr seid wirklich gut, wirklich gut«, waren seine lobenden Worte. >Ich bin schon gespannt, was der Pfarrer zu meinem heurigen Stück sagen wird. Ja, das interessiert mich wirklich.<