Der Wegweiser

In einem von der Welt vergessenen Tal lebte einst ein Volk von Jägern, Bauern und Handwerkern. Es war eine überschaubare Schar von fleißigen, hart um ihr Leben ringenden Leuten, die rund ums Jahr unterwegs waren, das Nötigste aufzutreiben oder dem kargen Boden abzutrotzen. In den lichten Wäldern sammelten sie Holz für ihre Feuer und Pilze für ihre Suppentöpfe. Auf den kargen Wiesen weideten sie ihre Schafe, die kalten Gebirgsbächen lieferten schmackhafte Fische für den Festtagstisch.

Ihre kleine Welt war rundum begrenzt von schier unüberwindlichen Hindernissen. Im Osten waren es unwegsame Gletscher, im Norden und Westen kahle Steilhänge. Nur zum Süden hin öffnete sich das Tal zu einer steinigen Öde, die ihnen nicht nur in der heißen Jahreszeit mit ihrer Trockenheit allen Mut zu einer Durchquerung nahm. Selbst die Gebirgsbäche beendeten hier ihr Erdendasein als Wadi.

So blieben die Talbewohner gezwungenermaßen unter sich. Aber manch einer und manch eine fragte sich, wie die Welt wohl außerhalb ihres Tales aussehen mochte, wie die Menschen hinter den Bergen lebten, oder ob hinter der elenden Wüste überhaupt Menschen leben konnten. Wenn sie dann abends ums Feuer saßen und über die Erlebnisse des Tages sprachen, mischte sich schon einmal ein Gedanke an ein Leben hinter den Bergen, hinter der Wüste dazu. Wie es wohl wäre, wie es eventuell sein könnte. Es waren aber nur Träume, von den Mutigsten ausgesprochene Hirngespinste, die jedoch in den Seelen mancher ZuhörerInnen Widerhall fanden.

Hin und wieder erzählten die Alten sogar von Begegnungen mit Leuten von außen, von Wanderern, die plötzlich und völlig unerwartet vor ihnen standen und sie in fremdartigen Dialekten ansprachen, die dann aber ebenso schnell wieder verschwunden waren, ohne ihnen mitzuteilen, wie und vor allem wo sie ins Tal gelangt waren. Denn das war zweifellos das größte Problem aller Talbewohner, sie fühlten sich eingeschlossen, abgeschlossen von der restlichen Welt, weil keiner von ihnen einen gangbaren Weg nach außen wusste.

Es gab aber Leute, nicht viele, vielleicht war es nur eine Hand voll, die sich mit diesem Zustand nicht zufriedengeben wollten. Sie litten ganz besonders unter der Abgeschlossenheit und sehnten sich nach einer Verbindung nach außen. Sie wollten sich mit anderen Menschen austauschen, über deren Erfahrungen sprechen, ihr Wissen teilen, deren Lösungen für die Probleme des Alltags kennenlernen und vielleicht noch darüber hinaus, deren Anschauungen der Welt. Es waren aber, wie gesagt, nicht viele. An Tagen, an denen es wenig zu tun gab, nach der Ernte etwa, fanden sie sich zu Trupps zusammen und suchten ihre kleine Welt nach dem Ausweg ab. Dieser konnte ja kein ausgetretener Pfad sein, das war ihnen klar, es war bestimmt kein breiter Weg, zumindest keiner der augenscheinlich in der Landschaft lag. Sie überquerten Gletscherspalten, durchkletterten senkrechte Felswände, durchschlugen dichtes Buschwerk und gingen beladen mit Wasserflaschen tief in die steinige Wüste. Am Ende des Tages kehrten sie aber immer wieder ausgepumpt aber voll Enttäuschung nach Hause zurück, ohne den Ausweg gefunden zu haben.

So erging es diesem Volk eine lange Zeit. Bis eines Tages ER erschien.

Noch viele Jahre später sollte man rätseln, woher ER gekommen war. Ein Zeitzeuge berichtete, er hätte IHN eines Tages am Rand der Wüste entdeckt. ER sei einfach auf einem Stein gesessen. Still und mit geschlossenen Augen sei ER auf einem Stein gesessen, wie vom Himmel gefallen.

ER sprach nicht viel, vielleicht auch, weil ER von niemanden verstanden werden konnte. Wenn ER durch ein Dorf ging, einen großen Sack auf dem Rücken, folgten IHM viele, manche aus Neugier, manche aus Bewunderung und wieder andere voll Misstrauen. Was hatte ER hier zu suchen? Was hatte ER vor? War ER ein Bote, war ER ein Händler? Brachte ER etwas ins Tal, wollte ER etwas mitnehmen? Was hatte ER in seinem Sack?

Als ER sich im ganzen Tal umgesehen hatte, ging ER ganz langsam, sodass IHM, wer immer es wollte, folgen konnte, tief in den Wald hinein, gerade dahin, wo alle Wege zusammenliefen. Von hier konnte man zum ewigen Eis aufsteigen, von hier ging es zu den steilen Felsen im Norden und Westen und von hier ging es schnurgerade in die trockene Hölle der Wüste. Und hier, genau hier, an der strategisch wichtigsten Stelle des ganzen Tales machte ER halt, legte SICH unter einen Baum, bedeckte SEINEN Körper mit dem Mantel und schlief ein, denn ER war müde.

Als ER Stunden später erwachte, machte ER sich an die Arbeit. ER entnahm SEINEM Sack eine Axt, einen Hammer und einige Nägel, fällte einen jungen Baum, befreite ihn von störenden Ästen, entrindete ihn, hackte ihn in zwei Teile, in einen langen und einen kürzeren, die er dann beide an einem ihrer Enden zuspitzte und nagelte zuletzt den kürzeren Teil an den längeren, sodass ein Kreuz entstand. Dieses Kreuz rammte ER tief in den Boden. Dabei achtete ER ganz genau darauf, dass die Spitze des waagrechten Holzes in eine ganz bestimmte Richtung wies.

Die Zahl der Zeugen dieses bemerkenswerten Aktes war seit SEINEM Erwachen stark angestiegen. Es hatte sich nämlich im ganzen Tag herumgesprochen, das ER etwas Geheimnisvolles tat. Und nun war es geschehen. Leider konnte sich keiner der Zeugen einen Reim darauf machen.

Da trat ER vor die Menge, verbeugte SICH wie zum Gruße, schulterte SEINEN Sack mit dem Werkzeug, trat zum Wegkreuz, lehnte SICH mit dem Rücken an die senkrechte Stange, blickte zur Spitze des waagrechten Holzes, das jetzt genau über SEINEM Kopf war und marschierte in die vom Kreuz angezeigte Richtung los. Auf diese Weise machte ER aus dem schlichten Holzkreuz einen Wegweiser, den wohl bedeutsamsten Wegweiser in der Geschichte des Tales. Die Menschen blickten IHM noch lange nach, bis ihnen die Bäume des Waldes den Blick auf IHN verwehrten.

Im Wald war und blieb es vollkommen still. Die Leute schauten dem Mann nach, als ob sie dessen plötzliches Verschwinden nicht wahrhaben wollten. Und als sie endlich redeten, fragte sie sich und einander, was sie von dem Holzkreuz zu halten hatten, das ER ihnen mitten im Walde zurückgelassen hatte. Es deutete in keinen der ausgetrampelten Pfade. Dieser Wegweiser zeigte nur den Weg, den ER selbst gegangen war.

Hatte ER versprochen wieder zu kommen? Hatte ER angedeutet wohin ER gehen würde? Hatte es in den von alters her überlieferten Geschichten, die sie einander am Feuer erzählten, jemals Ähnliches gegeben. Keiner der Alten erinnerte sich.

Diese Sache war so rätselhaft, dass sie die Gedankenwelt der Talbewohner zu dominieren begann. Es standen Männer auf, um ihren Mitmenschen ER-Klärungen anzubieten. Es standen sofort andere Männer auf, um diesen ER-Klärungsversuchen zu widersprechen. Gehörte das Testament des Entschwundenen, dieser rätselhafte Wegweiser einer vergangenen Zeit an oder war er Teil einer Welt, die erst auf sie zukommen würde? Manche ER-Klärer fanden deutliche Hinweise für diese These, andere für jene. Aber allen TalbewohnerInnen war klar, die Sache war zu rätselhaft, als dass man irgendetwas darüber wissen konnte. Das war eindeutig eine Sache des Glaubens.

Andererseits war diese Sache so schön, dass man die Gefühle, welche man bei SEINEM Abgang empfunden hatte, wieder empfinden wollte. Darum traf man sich jeden arbeitsfreien Tag zur gleichen Tageszeit, zu der ER seinerzeit abgegangen war, um gemeinsam diesem Geheimnis nachzufühlen. Bald sang man Lieder vom Mann aus der anderen Welt, der auf heimliche Weise gekommen war und vor den Augen aller genauso geheimnisvoll gegangen war. Natürlich traf man sich zu diesem Zweck beim Wegweiser im Wald, wo sonst. Nur hier konnte man in die rechte Stimmung kommen. Hier traf man Gleichgesinnte, hier sang man die ergreifenden Lieder und hörte die Berichte der Zeitzeugen.

Mit den Jahren wurden es aber immer weniger Leute, die selbst dabei gewesen waren. Immer weniger wussten aus eigener Anschauung, wie ER ausgesehen hat, wie ER gesprochen hat. Und was ER eigentlich wollte war zentrales Thema ihrer Diskussionen.

Welch große Bedeutung man SEINEN Taten beimaß, konnte man am Dienst ermessen, dem man IHM jede Woche erwies. Diese Treffen am Wegweiser wurden von Jahr zu Jahr feierlicher, die von Sehnsucht getragenen Lieder wunden zu Hymnen, gesungen von Jubelchören.

Als dann noch der letzte Zeitzeuge gestorben war, erreichte die Sehnsucht nach IHM einen neuen Höhepunkt. Nun hatte man ja niemanden mehr, den man fragen konnte, kein Lebender erinnerte sich mehr an IHN. So war es nur natürlich, dass die begabtesten Schreiber des Tales ihre Erinnerungen an die Erzählungen der Alten zu Papier brachten. Als diese des Schreibens kundigen Männer, es waren fünf, ihre Werke öffentlich verlasen, stellten die Zuhörer fest, dass sich ihre Berichte über SEIN Wirken im Tale in wesentlichen Punkten unterschieden. Man musste erkennen, dass einige parallele Stellen dieser fünf Zeugnisse nicht gleichzeitig wahr sein konnten. ER konnte, nur um ein Beispiel zu nennen, vor seinem Erscheinen nicht die Wüste überquert haben und vom Himmel gefallen sein. Auch konnte ER vor seinem Abgang nicht unter einer Tanne geschlafen haben, wie es in der Schrift des Zeugen Mogli hieß. Im ganzen Umkreis des Wegweisers gab es nämlich keine Tannen. Zumindest gab es sie zur Zeit der Schriftlegung nicht. Über die Frage, ob es zu SEINER Zeit Tannen im Wegweiser-Wald gegeben hat, entbrannte bald ein Richtungsstreit, der, das muss man leider zugeben, bis zum heutigen Tag währt. Man soll kein Öl ins Feuer gießen, die Sache ist ja schon heikel genug, doch könnte man, gesetzt den Fall man wäre gefragt, oder man müsste sich hier und jetzt entscheiden, anmerken, dass einige botanische Argumente dagegensprechen.

Man weiß heute gar nicht mehr, wer endlich die wunderbare Idee mit dem Zelt hatte. Es war aber für die Glaubensgemeinde wie ein neuer Aufbruch, wie eine ER-Weckung. Man wollte ein Zelt über dem Wegweiser errichten, ein Zelt zu dessen Schutze, ein Zelt zur Aufbewahrung der fünf Zeugnisse, ein Zelt, groß genug für die wöchentlichen Treffen, mit einem Wort, ein Prachtzelt zu SEINER Ehre.

In der Rückschau muss man sich natürlich auch fragen, wann und vor allem wie sich die Kaste der Zelthüter herausgebildet hat. Sie ist ja zweifellos nicht vom Himmel gefallen. Es geht auch aus den Zeugnissen nicht eindeutig hervor, ob ER diese Männer persönlich eingesetzt hat. Die Zelthüter selbst beriefen sich allerdings immer schon auf eine Berufung durch IHN. Sie leiteten zumindest ihre Kompetenzen von IHM ab. Dass ausschließlich Männer Hüter sein konnten, leuchtete jedermann ein. ER war ja zweifellos ein Mann, soweit war man sich im Tale einig.

Dank ihrer elitären Stellung waren die Zelthüter bald bei allen Beratungen dabei, ja, sie leiteten dank ihrer hohen Sendung diese Gespräche und hatten natürlich immer das letzte Wort, ob es um den Standort der Bienenkörbe ging, den Bau einer neuen Brücke oder um die Frage, auf welche Hochweide die Schafe in diesem Jahr geführt werden sollten. Richtungsweisende Entscheidungen fielen naturgemäß in ihren Kompetenzbereich.

Die Allgegenwärtigkeit der Zelthüter hatte in Folge Auswirkung auf alle Lebensbereiche, was vom gemeinen Volk als Bereicherung gerne angenommen wurde. Angenehm war daher auch die neue Grußform. Wünschte man sich bisher einen „angenehmen Tag“, eine „angenehme Nacht“ und so fort, so streckte man nun den rechten Arm mit dem Weg-weisenden Zeigefinger waagrecht vom Körper weg. Man zeigte den Nächsten derart den rechten Weg. Die so Zurechtgewiesenen antworteten stumm mit derselben Geste. So war man sich immer sicher, den nächsten Schritt in die richtige Richtung zu setzen.

Wegweiser fanden sich bald allerorts. Das hatte vor allem mit dem wegweisenden Fleiß der Handwerker und Händler zu tun. Erstere schnitzten unentwegt Wegweiser für den Hausgebrauch, Zweitere boten sie an jeder Ecke zum Kauf an. Wollte man dazugehören, und wer wollte das nicht, nagelte man kleine hölzerne Wegweiser an seine Hüttenwände. Man brachte größere auf den Giebeln öffentlicher Baracken an und stellte übermannsgroße auf Bergspitzen und an Wegkreuzungen, wo sie leider auch zu Missverständnissen führen konnten, wenn sie für funktionelle Wegweiser gehalten wurden.

Seit diese Zeit ist viel Wasser in der Wüste verdunstet. Unzählige Generationen haben auf die geschilderte Weise die Erinnerung an IHN dankbar und fromm wachgehalten. Demütig haben die Zelthüter SEINEN Wegweiser im Prunkzelt gepflegt und erhalten. Ja, sie haben SEIN Zelt, wenn es notwendig war, erneuert und dabei immer größer gemacht und prachtvoller ausgestattet, sodass seine Größe und Schönheit heute alles Menschengemachte überstrahlt.

Nur eines hatten sie alle verabsäumt. Sie sind SEINEN Weg nie gegangen. Schade eigentlich.