Hans Puchsbaum besuchte wieder einmal seine Stadt. Es war ein Blitzbesuch im wahrsten Sinne des Wortes. Da er immer noch am Bauwesen interessiert war, überflog er schnell das Allgemeine Krankenhaus, schaute kurz am Krankenhaus Nord vorbei, bestaunte in Windeseile die Seestadt und suchte dann vergeblich Kaisermühlen, wo es ihm letztens so gut gefallen hat. Er wird seine Suchrunden schon an der richtigen Stelle gedreht haben, wo aber war Kaisermühlen, so wie er es kannte? Kaisermühlen war aber nicht das Einzige was ihm abging. Auf der Suche nach der Wiener Gemütlichkeit verschlug es ihn schließlich zu einem Heurigen nach Nussdorf. Und dort musste er lächeln als ihm eine schmalzige Stimme mit >Heit kumman d‘ Engerl auf Urlaub noch Wean< einen Wurm ins Ohr setzte. >Wie wahr< dachte er bei sich, >wie wahr!<. Ja, die Wiener und ihre Vorstellungen vom himmlischen Hofstaat, das ist ein Kapitel für sich. Als er sich wieder der Innenstadt zuwandte, überraschte ihn die Menschenmasse, welche sich über den Graben wälzte, kaum noch. Er kam ja öfter auf Urlaub nach Wean, wenn auch in großen zeitlichen Abständen. Aber die unzähligen Schanigärten auf dieser Nobelflaniermeile ließen ihn doch staunen. Ja, fünfhundert Erdenjahre können Vieles verändern. Natürlich wusste er, dass der Stephansdom gleich um die Ecke stand, doch getraute er sich nicht gleich zu ihm hin zu schauen. Als er es dann aber doch tat, war er beruhigt. Der Südturm wies, so wie er es immer schon getan hatte, wie ein Zeigefinger himmelwärts und zwang die Blicke der Leute in seine Richtung. Die unzähligen Touristen, die um Hans herum wuselten, schnatterten in allen möglichen Sprachen und Dialekten, er aber stand stumm ergriffen vor seiner ehemaligen Wirkungsstätte. Wie schön diese Kirche doch war. Und wie sehr er sie liebte. Langsam ging er näher, freute sich am Interesse der Fremden an seinem Gotteshaus und lächelte zufrieden beim Anblick des Nordturmes. Da überholte ihn eine forsche junge Dame, welche einen großen gelben Schirm in ihrer Rechten hielt. Dieser war nicht einmal aufgespannt, dennoch hielt ihn die Frau hoch über ihren Kopf. Eine Schar erschöpft schlurfender Senioren folgte ihr. Die forsche Dame blieb stehen, drehte sich zu ihren Verfolgern um und wurde laut: >Sie werden doch sicher den Kölner Dom im Gedächtnis haben, oder den Regensburger. Gestern haben wir auch die Votivkirche besichtigt, erinnern Sie sich? Was fällt Ihnen beim Anblick der Stephanskirche auf?< Ohne eine Antwort der durch Wien geschleiften Alten abzuwarten schrie sie: >Richtig, diesem Bauwerk hier fehlt der zweite Turm! Der Nordturm wurde zwar nach den Plänen des damaligen Leiters der Dombauhütte zu Sankt Stephan, Hans Puchsbaum, begonnen, aber nie fertiggestellt.< Hans Puchsbaum war plötzlich ganz Ohr. Das interessierte ihn brennend. >Die tatsächlichen Gründe dafür,< fuhr die Schreierin fort, >sind genau so langweilig wie unbekannt, daher werde ich die Sage kurz wiedergeben, welche man sich in Wien über diese betrübliche Angelegenheit erzählt.< Die gelb beschirmte Dame holte tief Luft, während der ehemalige Leiter der Dombauhütte den Atem anhielt. Was würde jetzt wohl kommen?
>Als der Stephansdom fast fertig gebaut war,< begann sie die Erzählung, >als nur mehr der Nordturm fehlte, suchte der Stadtmagistrat einen Baumeister, der diesen Jahrhundertbau schnell und kostengünstig fertigstellen sollte. Es meldete sich ein gewisser Hans Puchsbaum oder Puchspaum oder gar Buxböm, da quellen die Quellen auseinander, vermutlich ein Gote, jedenfalls ein Meister der Gotik.< Die Seniorengruppe war froh ein bisschen rasten zu dürfen und lachte höflich. Und der verewigte Hans Puchsbaum hoffte auf keine weitere Goteslästerung, lauschte aber mit Interesse. >Puchsbaum bekam tatsächlich den Auftrag, vor allem da er anbot den Bau in der halben Zeit wie die Konkurrenz und zu den halben Kosten fertigstellen zu wollen. Die Mentalität des Magistrats und der Pegelstand in der städtischen Kassa ermöglichte die Anstellung bedenkenlos. Wer von ihnen jetzt an den Bau des Allgemeinen Krankenhauses oder den seines jüngeren Geschwisterls in Floridsdorf denken muss, wird auch diese Sage für wahr halten können. Also weiter im Text.< Die Reiseführerin führte offenbar Österreicher, da sich keine Spur eines ungläubigen Staunens in den Gesichtern der Leute abzeichnete. >Der neue, bisher ruhmlose Dombaumeister, hoffte durch sein Tun Ansehen zu gewinnen, auch um dadurch den hochnäsigen Eltern seiner Freundin Maria zu imponieren. Letztere waren ihm, dem Unbedeutenden, bis dato nämlich nicht gewogen.<
Dem Hans Puchsbaum stand der Mund weit offen. Wer hatte sich das ausgedacht? Für wie blöd wurde er von dieser Person dargestellt? War das der Dank der Wiener für sein Wirken? Aber schon wetzte die flotte Rednerin wieder ihr Mundwerk: >Der Bau schritt zwar voran, aber langsamer als gedacht und auch nicht gerade billig. Da begriff der Baumeister dass er sein Versprechen nicht einlösen konnte und wurde mit jedem Tag verzweifelter und verzweifelter. Seine Maria, sein Ruhm, ja seine Ehre stand auf dem Spiel. Da bot ihm ein geheimnisvoller Fremder seine Hilfe an. „Ich weiß welcher Kummer dich drückt, lieber Hans,“ sagte der hilfsbereite Mann zu ihm, „du erbarmst mir!“ Hans fragte wer er denn sei und der Mann sagte: „Wer ich bin, willst du wissen? Manche nennen mich Höllenfürst, andere heißen mich Teufel. Aber Namen sind doch Schall und Rauch“, hier soll der Fremde gelacht haben, „es ist doch wohl die Hauptsache, dass ich dir helfen werde deine Maria zu bekommen und hohes Ansehen unter den Leuten dieser Stadt und noch weit darüber hinaus.“ Wenn Sie sich wundern, meine Damen und Herren, woher man denn weiß was damals genau gesprochen wurde, wundern Sie sich lieber nicht. Und was tat Hans? Er schreckte zurück: „Heb dich hinweg, du Schrecklicher, mit dir will ich nichts zu schaffen haben!“ Aber der Teufel hatte ihn schon am Wickel. „Willst du denn deine liebe Maria nicht zur Frau nehmen? Willst du mit Schimpf und Schande aus der Stadt getrieben werden?“ Da knickte der Baumeister ein. „Was verlangst du für deine Hilfe?“ Da trat der Teufel näher an ihn heran und sagte. „Ich verlange nicht viel. Du darfst nur während der ganzen Bauzeit weder den Namen Gottes noch den der Jungfrau Maria und auch den keines anderen Heiligen aussprechen, das ist alles.“ Für Hans schien das ein Leichtes zu sein und so schlug er ein.<
Puchsbaum schüttelte ungläubig den Kopf. Oder schüttelte er den Kopf weil er gläubig war? Konnten sich diese Spötter nicht vorstellen, dass man eine Kirche aus ganz anderen Gründen bauen wollte? Seine Maria hatte ihn ohnedies geliebt und kein Teufel hatte je Einfluss auf die Meinung einer Schwiegermutter über den Bräutigam ihrer einzigen Tochter. Damals beschäftigte ihn eigentlich ein ganz anderes Problem. Sein Kummer nährte sich aus einer ganz anderen Quelle. Man erwartete von ihm lediglich einen zweiten Turm zu bauen. Er sollte sein künstlerisches Talent und seine organisatorischen Qualitäten nutzen um das zu tun was vor ihm schon ein anderer in höchster Perfektion getan hatte. Er sollte den zweiten Turm errichten, den zweiten, nur den zweiten.
Da wurden seine Erinnerungen von der Stimme der Fremdenführerin unterbrochen. >Der Nordturm wuchs ab diesem Tag zusehends, alles klappte wunderbar. Puchsbaum konnte nun hoffen sein Werk in der von ihm versprochenen Zeit und zu den versprochenen Kosten vollenden zu können. Er sah sich schon als ehrenwerter, angesehener Ehemann seiner Maria. Durch den rasanten Baufortschritt hatte er am Bau aber so viel um die Ohren, dass er seine Angebetete in diesen Tagen kaum sehen konnte, darum war er hocherfreut, als er sie von seinem hohen Baugerüst aus über den Stephansplatz gehen sah. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, also rief er voll Freude: „Maria!“ Aber kaum hatte er ihren Namen, der ja auch der Name der Mutter des Herrn Jesus war, ausgesprochen, schwankte das Baugerüst auf dem er stand, krachte donnernd zusammen und riss ihn in den Tod. Markerschütterndes Hohngelächter war über den ganzen Platz zu hören und manche Leute wollten eine riesenhafte, teuflisch grinsende Gestalt gesehen haben, die über diesem schrecklichen Geschehen schwebte. Obwohl man den riesigen Trümmerhaufen des zusammengestürzten Gerüstes genau durchsuchte, fand man die Leiche des Baumeisters nicht. Der Bau des Nordturmes wurde daraufhin eingestellt und nie weitergeführt. Soweit die Sage. Erst im 16. Jahrhundert fand der gotische Torso mit der sogenannten „Welschen Haube“, einem Renaissancebau, einen Abschluss. Heute birgt der Nordturm die größte Glocke unseres Landes, die Pummerin.< Die Führerin war zum Ende ihrer Sage gekommen, verbeugte sich artig vor ihren geduldigen Zuhörern, wandte sich zum Gehen und verschwand mit ihren Verfolgern im Riesentor des Domes.
Sollten Sie an den wahren Beweggründen Puchsbaums interessiert sein, so lesen Sie bitte das Buch:
SAGENHAFTES aus dem WEINVIERTEL und den anderen Vierteln dieser Welt, erschienen in der Edition Weinviertel ISBN: 978-3-902589-80-4
Erhältlich im Buchhandel oder im Onlineshop des Verlages
www.edition-weinviertel.at/shop/catalog/product_info.php?products_id=453
Jetzt geht sie hoffentlich Beten, dachte Puchsbaum, der wie angewurzelt dastand und, wenn er nicht die Nutzlosigkeit dieser Aktion eingesehen hätte, wohl seine Knochen gezählt hätte. Ja, dachte er dann, so ist es mit der Ehre. >Aber mit dir habe ich es damals gut gemacht<, sagte er dann halblaut zu seinem Turm, >nur hat es, wie ich jetzt hören muss, keiner verstanden. Aber gelungen ist es mir doch, wenn auch nicht zu meiner Ehre sondern zur Ehre des Höchsten<. Dann begannen seine Augen vor Freude über sein gelungenes Werk, dem nicht fertiggestellten Turm, zu leuchten.
Wie würde der Stephansdom jetzt wohl aussehen, wenn Hans Puchsbaum sich damals nicht rechtzeitig besonnen hätte? Wie würde er aussehen, wenn er nicht die schriftliche Anweisung gegeben hätte den Nordturm nach seinem Tode so zu belassen wie er war, nämlich offensichtlich unvollendet? Kann denn eine Kirche vollendet sein? Nein, keine steinerne kann das und die aus Menschenleben erst recht nicht. Und darum steht der Nordturm heute da als ein Sinnbild für die gesamte Kirche, unvollkommen und unvollendet wie die Menschen aus denen sie besteht. Und der gesamte Stephansdom steht da als ein Gleichnis. Gleicht nicht der Südturm einem himmelwärts weisenden Zeigefinger? Und gleicht das Langhaus nicht den weiteren Fingern dieser mächtigen Hand? Und fehlt unter diesem Gesichtspunkt der Nordturm? Nein, gewiss nicht! Ein zweiter Turm hätte die Gesamtidee bloß vernebelt. Das hatte der Baumeister erfolgreich verhindert. Das war sein nicht zu Stein gewordenes Werk.
Manfred Vesely