Amöboide Wiener Lyrik

In einer Biologiestunde einer 2. Klasse sprachen wir über Amöben. Das sind einzellige Lebewesen, die keine feste Körperform haben. Sie bewegen sich durch Veränderung der Zellform fort. Beim Fressen umfließen sie organisches Material und nehmen es in ihren Körper auf. Ich erzählte den Schülerinnen und Schülern, dass unsere Weißen Blutkörperchen den Amöben in diesen Belangen ähnlich sind. Auch sie haben eine wandelbare Form und sind erstaunlicherweise, obwohl sie Zellen unseres Körpers sind, frei beweglich. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit Amöben bezeichnet man ihre Lebensweise als amöboid. Ich wies die Kinder auf die Endung –oid hin, welche die Bedeutung von ›ähnlich wie‹ hat und vom griechischen eidos, dem Wort für Gestalt, kommt. Ich fragte, ob ihnen nicht ein anderes Wort mit -oid bekannt wäre und hoffte, dass jemand Geoid oder Ellipsoid sagen würde. Florentin kannte das Wort »Oida«.

Ich kannte das Wort auch, nämlich von einem Gespräch, das ich erstens zwischen zwei Halbwüchsigen und zweitens zwischen Floridsdorf und dem Praterstern in der S1 mithören durfte. Das Gespräch lautete:

»Oida!« – »Oasch!« – »Oasch, Oida!« – »Oida, Oasch!«

In der Station Praterstern musste ich umsteigen und hatte in der U1 Richtung Favoriten, in den Tiefen Wiens, genügend Zeit die gehörte Wortfolge zu bewerten. Was Sie nicht wissen können, in mir schlägt das Herz eines Lyrikers. Und an lyrische Dichtung musste ich beim Hören dieser rhythmischen Sprachspiegelung denken. Für mich ist moderne Lyrik mehr als Poesie. Denken sie nur an:

Stockerau          Floridsdorf

Stockerau          Floridsdorf

Stockerau          Stockerau

Floridsdorf        Floridsdorf

Stockerau

Lyrik geht über Stockerau hinaus! Das nicht Ausgesprochene als Wirkgedanke, der Verzicht auf den Reim, symbolisch für das dichterische Versagen (was muss sich der Dichter nicht alles versagen), macht Lyrik aus. Obwohl sich kaum ein Wort besser auf Floridsdorf reimt als Floridsdorf oder Stockerau auf Stockerau.

Das Kunstwort Oida, um zu unserem Beispiel zurückzukommen, als verstärkenden Kontrapunkt einzusetzen, fand ich wegweisend, wegweisend nicht weg weisend im Sinne von abstoßend. Die Diskutanten stritten nicht etwa, das war am Tonfall zu hören, Oida bekräftigte eindeutig das Oasch. Po-esie wie sie im Gedichtband steht. Im ersten Teil der Zwiesprache projizierten die Künstler, jeweils mit einem einzigen Wort, ihre gefühlte Innerlichkeit auf den nicht ausgesprochenen Wirkgedanken des wienerischsten aller Wiener Worte, dem ›Leiwand‹. Wo Wiener in Dichtestpackung beisammen sind, und sei es in einer Schnellbahn, ist es leiwand.

Im zweiten Teil dieser Leinwandprojektion, in dem beide Worte, also beide codierte Dichteschwankungen des Äthers, offenbar zum Zweck der Wirkungssteigerung direkt hintereinander in die Atmosphäre gesetzt wurden, wandelte sich das Hören dieser Kotwörter in Verstehen, in amöb-oida-les Kunstverstehen.

Im Inneren einer Schnellbahngarnitur der Simmering-Graz-Pauker AG, zwischen dem Floridsdorfer Festland und der Donauinsel schwebend, einer imaginär-metropolischen Kunstinstallation, einer spontanen, verbalen Leiwandperversion dieser Qualität beizuwohnen, kann dir nur in Wien passieren. Des gibt’s halt nur in Wean, Oida.